Ich, der Bleistift – Editorial

Der Mann konnte über­zeu­gend reden. In der Tasche seines Jacketts roch es ange­nehm nach Baum­woll­fa­sern. Das rief Erin­ne­run­gen in mir wach, die aus einem vorhe­ri­gen Leben zu kommen schie­nen, einem urwüch­si­gen, der Natur verbun­de­nen. Ich steck­te seit dem Vormit­tag in dem Klei­dungs­stück und war gespannt, was heute passie­ren würde. Ich liebte es, mein Graphit auf weißes Papier strei­chen zu lassen. Jeden Tag freute ich mich auf die Zeich­nun­gen und Buch­sta­ben, die Benut­zer erzeug­ten. Das war meine Bestimmung.- – - 

Der Mann zog mich aus seiner Tasche, aber anstatt etwas zu Papier zu brin­gen, gesti­ku­lier­te er mit mir herum. Er stand an einem Redner­pult. Vor uns ein Saal mit einer Menge Leute, offen­sicht­lich Studen­ten. Er stell­te mich als ein Werk wunder­sa­men Zusam­men­wir­kens dar. Er behaup­te­te, dass viele Tausend Menschen um den Erdball mit unzähl­ba­ren Hand­grif­fen betei­ligt waren. In komple­xen Prozes­sen verschmolz das zu einer Sympho­nie der Zusam­men­ar­beit, aus der heraus ich entstand. Dabei leis­te­ten Einzel­ne ihren Beitrag, ohne zu ahnen, woran sie sich betei­lig­ten. Alle trugen zu einer Abfol­ge bei, an deren Ende ich in der Hand eines Käufers lag.
– - – 

Der Mann ließ mich zuneh­mend skep­ti­scher werden. Aus dem Publi­kum rief ihn jemand „Mr. Fried­man“. Anstatt mit mir etwas Sinn­vol­les zu tun, erzähl­te er aus meiner Sicht belang­lo­se Allge­mein­plät­ze. Die außer­ge­wöhn­li­che Leis­tung, die Fried­man ausschließ­lich mensch­li­chem Handeln zuschrieb, kannte ich zur Genüge. Die Natur erzeug­te tagtäg­lich derlei Wunder. Die erstaun­ten Gesich­ter der Zuhö­ren­den signa­li­sier­ten mir dage­gen, dass die Worte, die sie hörten, wie eine Offen­ba­rung klin­gen muss­ten. Darauf hatte es Fried­man schein­bar abge­se­hen. Denn jetzt setzte er zur Lobre­de auf einen Mecha­nis­mus an, der dieses Wunder­werk (damit meinte er mich) erschuf. Nur er bilde die Grund­la­ge einer Markt­wirt­schaft, in der alle Betei­lig­ten frei­wil­lig und ohne Zwang mitwirk­ten. Er nannte es den „Preis­me­cha­nis­mus“. Auf sämt­li­chen Herstel­lungs­stu­fen handel­te man Preise für Leis­tun­gen in beider­sei­ti­gem Einver­neh­men aus und es käme einem Wunder gleich, dass das aus dieser Verwo­ben­heit der Menschen entstan­de­ne Endpro­dukt für ein paar Cent zu kaufen sei. Er hielt mich hoch, sodass jeder mich sah. Jetzt kam ich mir wort­wört­lich billig vor. Ich begann ihn zu hassen.
– - – 

Seine Geschich­te war eine unver­schäm­te Lüge. Wer konnte besser wissen, was im Zusam­men­hang mit meiner Herstel­lung alles passiert war als ich? Der Preis­me­cha­nis­mus, den der „noble“ Fried­man lobte, war die abstrak­te Zahl, die nicht etwa Wunder­sa­mes hervor­brach­te, sondern hinter der sich erschüt­tern­de Schick­sa­le von Menschen und Umwelt verbar­gen. Ich wusste das, aber Fried­man mutmaß­lich nicht. Ich musste mit anhö­ren, wie er den Studie­ren­den Unsinn erzähl­te. Der Preis einer Sache sei das Gerech­tes­te auf der Welt, wenn sowohl der Fordern­de als auch der Zahlen­de aus freien Stücken hande­le. Ein auf diese Weise entstan­de­ner Preis sei das Funda­ment für ein System, das man „Freie Markt­wirt­schaft“ nennt. Dabei gäbe es nur Gewinner.
– - – 

Auf dem Weg der Herstel­lung musste ich erle­ben, wie Raub­bau an Land­schaf­ten betrie­ben wurde, sei es als mein Holz geschla­gen, das Graphit der Erde entris­sen oder der Kautschuk in Gebie­ten geern­tet wurde, in denen er norma­ler­wei­se gar nicht vorkommt. All das sozia­le Leid und die Umwelt­sün­den, die ich miter­leb­te, lassen sich auf etwas zurück­füh­ren, das in meinem Endpreis eben­falls immer enthal­ten ist: die Kapi­tal­ren­di­te. Sowohl dieje­ni­ge der Inves­to­ren von Fabri­ken und Maschi­nen, als auch die der Land­eigen­tü­mer welt­weit, die alle will­fäh­rig an der Produk­ti­on mitwirk­ten. Ihr Inter­es­se galt dem Anhäu­fen von Geld­ver­mö­gen. Für diesen Zweck benutz­ten sie meine Popu­la­ri­tät als Schreib­werk­zeug und den Markt, der ihnen ihre leis­tungs­lo­sen Gewin­ne sicherte.
– - – 

Der Preis­me­cha­nis­mus ist in der Wirt­schaft, in der wir heute leben ein Märchen, mit dem die Fried­mans dieser Welt, samt der Univer­si­tä­ten, an denen sie ihre Lehren verbrei­ten dürfen, die bitte­re Wahr­heit verber­gen. Die Preise sind verfälscht, weil sie die Schä­den der Produk­ti­on nicht enthal­ten. Dafür aber die immensen Kapi­tal­ge­win­ne der Super­rei­chen. Die wieder­um stei­gen in dem Maße, in dem die Zerstö­rung aus dem Preis ausge­la­gert und Unbe­tei­lig­ten in Rech­nung gestellt wird. Zum Beispiel in Form von Steu­er­be­las­tun­gen. In der vermeint­lich freien Wirt­schaft sind wir Gefan­ge­ne unehr­li­cher Preise und der zerstö­re­ri­schen Folgen, die mit ihrem Zustan­de­kom­men verbun­den sind. Fried­mans Preis­me­cha­nis­mus wäre wahr­lich ein Wunder, wenn jegli­che Kapi­tal­ren­di­te aus ihm verschwin­den würde.
– - – 

Ich, der Blei­stift, plädie­re im Namen aller mensch­li­chen Produk­te für eine Welt, in der niemand mehr Geld mit Geld oder Renten aus Boden­ei­gen­tum verdie­nen kann! Ich bin für ehrli­che, vertrau­ens­wür­di­ge Preise!
– - – 

Der Auftrag, meine Geschich­te zu erzäh­len, ging an: Andre­as Bangemann
– - – 

Anlei­hen wurden gemacht bei: Leonard E. Read: „I, Pencil“ und Milton Fried­man „This is why Free markets are mira­cu­lous“, eine Rede gehal­ten in den 80er Jahren, zu finden auf: https://youtu.be/DbQUS8xbpX4
– - – 

Herz­lich grüßt Ihr Andre­as Bangemann 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Kommentare werden moderiert. Es kann etwas dauern, bis dein Kommentar angezeigt wird.