Ich, der Bleistift – Editorial
Der Mann zog mich aus seiner Tasche, aber anstatt etwas zu Papier zu bringen, gestikulierte er mit mir herum. Er stand an einem Rednerpult. Vor uns ein Saal mit einer Menge Leute, offensichtlich Studenten. Er stellte mich als ein Werk wundersamen Zusammenwirkens dar. Er behauptete, dass viele Tausend Menschen um den Erdball mit unzählbaren Handgriffen beteiligt waren. In komplexen Prozessen verschmolz das zu einer Symphonie der Zusammenarbeit, aus der heraus ich entstand. Dabei leisteten Einzelne ihren Beitrag, ohne zu ahnen, woran sie sich beteiligten. Alle trugen zu einer Abfolge bei, an deren Ende ich in der Hand eines Käufers lag.
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Der Mann ließ mich zunehmend skeptischer werden. Aus dem Publikum rief ihn jemand „Mr. Friedman“. Anstatt mit mir etwas Sinnvolles zu tun, erzählte er aus meiner Sicht belanglose Allgemeinplätze. Die außergewöhnliche Leistung, die Friedman ausschließlich menschlichem Handeln zuschrieb, kannte ich zur Genüge. Die Natur erzeugte tagtäglich derlei Wunder. Die erstaunten Gesichter der Zuhörenden signalisierten mir dagegen, dass die Worte, die sie hörten, wie eine Offenbarung klingen mussten. Darauf hatte es Friedman scheinbar abgesehen. Denn jetzt setzte er zur Lobrede auf einen Mechanismus an, der dieses Wunderwerk (damit meinte er mich) erschuf. Nur er bilde die Grundlage einer Marktwirtschaft, in der alle Beteiligten freiwillig und ohne Zwang mitwirkten. Er nannte es den „Preismechanismus“. Auf sämtlichen Herstellungsstufen handelte man Preise für Leistungen in beiderseitigem Einvernehmen aus und es käme einem Wunder gleich, dass das aus dieser Verwobenheit der Menschen entstandene Endprodukt für ein paar Cent zu kaufen sei. Er hielt mich hoch, sodass jeder mich sah. Jetzt kam ich mir wortwörtlich billig vor. Ich begann ihn zu hassen.
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Seine Geschichte war eine unverschämte Lüge. Wer konnte besser wissen, was im Zusammenhang mit meiner Herstellung alles passiert war als ich? Der Preismechanismus, den der „noble“ Friedman lobte, war die abstrakte Zahl, die nicht etwa Wundersames hervorbrachte, sondern hinter der sich erschütternde Schicksale von Menschen und Umwelt verbargen. Ich wusste das, aber Friedman mutmaßlich nicht. Ich musste mit anhören, wie er den Studierenden Unsinn erzählte. Der Preis einer Sache sei das Gerechteste auf der Welt, wenn sowohl der Fordernde als auch der Zahlende aus freien Stücken handele. Ein auf diese Weise entstandener Preis sei das Fundament für ein System, das man „Freie Marktwirtschaft“ nennt. Dabei gäbe es nur Gewinner.
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Auf dem Weg der Herstellung musste ich erleben, wie Raubbau an Landschaften betrieben wurde, sei es als mein Holz geschlagen, das Graphit der Erde entrissen oder der Kautschuk in Gebieten geerntet wurde, in denen er normalerweise gar nicht vorkommt. All das soziale Leid und die Umweltsünden, die ich miterlebte, lassen sich auf etwas zurückführen, das in meinem Endpreis ebenfalls immer enthalten ist: die Kapitalrendite. Sowohl diejenige der Investoren von Fabriken und Maschinen, als auch die der Landeigentümer weltweit, die alle willfährig an der Produktion mitwirkten. Ihr Interesse galt dem Anhäufen von Geldvermögen. Für diesen Zweck benutzten sie meine Popularität als Schreibwerkzeug und den Markt, der ihnen ihre leistungslosen Gewinne sicherte.
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Der Preismechanismus ist in der Wirtschaft, in der wir heute leben ein Märchen, mit dem die Friedmans dieser Welt, samt der Universitäten, an denen sie ihre Lehren verbreiten dürfen, die bittere Wahrheit verbergen. Die Preise sind verfälscht, weil sie die Schäden der Produktion nicht enthalten. Dafür aber die immensen Kapitalgewinne der Superreichen. Die wiederum steigen in dem Maße, in dem die Zerstörung aus dem Preis ausgelagert und Unbeteiligten in Rechnung gestellt wird. Zum Beispiel in Form von Steuerbelastungen. In der vermeintlich freien Wirtschaft sind wir Gefangene unehrlicher Preise und der zerstörerischen Folgen, die mit ihrem Zustandekommen verbunden sind. Friedmans Preismechanismus wäre wahrlich ein Wunder, wenn jegliche Kapitalrendite aus ihm verschwinden würde.
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Ich, der Bleistift, plädiere im Namen aller menschlichen Produkte für eine Welt, in der niemand mehr Geld mit Geld oder Renten aus Bodeneigentum verdienen kann! Ich bin für ehrliche, vertrauenswürdige Preise!
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Der Auftrag, meine Geschichte zu erzählen, ging an: Andreas Bangemann
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Anleihen wurden gemacht bei: Leonard E. Read: „I, Pencil“ und Milton Friedman „This is why Free markets are miraculous“, eine Rede gehalten in den 80er Jahren, zu finden auf: https://youtu.be/DbQUS8xbpX4
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Herzlich grüßt Ihr Andreas Bangemann
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