Horte nicht, lebe! – Roland Rottenfußer

Im Einklang mit natür­li­chen Prin­zi­pen und Kreis­läu­fen zu wirt­schaf­ten würde helfen, viele derzeit dring­li­che Mensch­heits­pro­ble­me zu lösen.
– - -

Wir müssen natür­li­ches Wirt­schaf­ten vom Stigma des Anrü­chi­gen befrei­en, das ihm wegen der Auswüch­se des Sozi­al­dar­wi­nis­mus anhaf­tet. Nicht nur der „Kampf ums Dasein“ prägt natür­li­che Ökosys­te­me. Bei genau­er Betrach­tung finden wir dort auch viel Posi­ti­ves: Koope­ra­ti­on, gesun­de Wachs­tums­gren­zen, Ausgleich zwischen den Extre­men, frei flie­ßen­de Ener­gien und den Verzicht auf abstrak­te Besitz­ver­hält­nis­se. Natür­li­che Ökono­mie ist ein Wirt­schaf­ten nach natür­li­chen Prin­zi­pi­en, die das Beson­de­re unse­rer Situa­ti­on als Menschen nicht verleug­net. Vor allem ist sie ein Heil­mit­tel gegen die Domi­nanz egois­ti­scher Einzel­in­ter­es­sen. Denn Ökolo­gie bedeu­tet im Kern: Jeder Teil erhält seinen Sinn durch die Harmo­nie mit einem größe­ren Ganzen.
– - -

Darf man Tiere und Pflan­zen zum Maßstab dafür nehmen, wie sich Menschen verhal­ten sollen? Die Frage ist heikel, denn das bekann­tes­te Beispiel einer an der Natur geschul­ten Ökono­mie ist der so genann­te Sozi­al­dar­wi­nis­mus. „Survi­val of the fittest“ und „Kampf ums Dasein“ sind popu­lä­re Slogans, die die Wett­be­werbs­men­ta­li­tät des moder­nen Kapi­ta­lis­mus beein­flusst haben. Gefähr­lich ist dieser Geist vor allem, weil er sugge­riert, dass bestimm­te Indi­vi­du­en verdien­ter­ma­ßen Verlie­rer eines „natür­li­chen“ Ausle­se­pro­zes­ses sind.
– - -

Charles Darwin selbst ist an den Vorur­tei­len, die über ihn im Umlauf sind, nicht ganz unschul­dig. „Wir bauen Zufluchts­stät­ten für die Schwach­sin­ni­gen, für die Krüp­pel und die Kran­ken“, schreibt er in seinem Haupt­werk „Die Abstam­mung des Menschen“. Seine Schluss­fol­ge­rung: „Niemand, welcher der Zucht domes­ti­zier­ter Tiere seine Aufmerk­sam­keit gewid­met hat, wird daran zwei­feln, dass dies für die Rasse des Menschen im höchs­ten Grade schäd­lich sein muss.“
– - -

Das Stich­wort „Natür­li­che Ökono­mie“ ruft uns, neben Darwin, noch einen zwei­ten großen Denker in Erin­ne­rung: Silvio Gesell, der 1916 sein Haupt­werk „Die natür­li­che Wirt­schafts­ord­nung“ veröf­fent­lich­te. Gesell gilt als Vater der moder­nen Kritik am Zins und seinen nega­ti­ven Folgen für die Wirt­schaft, und inspi­rier­te viele heute bestehen­de Regio­nal­wäh­run­gen. „Natür­lich“ ist für ihn vor allem, wenn sich jeder seinen Kräf­ten gemäß entfal­ten kann, was Chan­cen­gleich­heit voraus­setzt. Diese wird jedoch durch Privi­le­gi­en verfälscht; zum Beispiel durch Grund­be­sitz und Einkünf­te aus Zinsen bezie­hungs­wei­se die Pflicht der Unter­pri­vi­le­gier­ten, Zins und Boden­pacht zu bezahlen.
– - -

In die sozia­le Gesin­nung Gesells mischen sich jedoch irri­tie­ren­de sozi­al­dar­wi­nis­ti­sche Aussa­gen, die kritisch, aber auch im Lichte der Zeit gese­hen werden müssen, in der Gesell lebte.
– - -

Die Ökono­mie des Waldes
– - -

Die genann­ten Beispie­le mahnen zur Vorsicht. Können wir uns trotz­dem eine natür­li­che Ökono­mie in einem posi­ti­ven Sinn vorstel­len? In einer Zeit, in der Menschen die Natur als Ware, als Müll­hal­de und als Gegen­stand von Raub­bau miss­brau­chen, lohnt es sich, darüber nachzudenken.
– - -

Die Natur­phi­lo­so­phin Pia Mayer-Gampe beschreibt in ihrem Buch „Das golde­ne Ei“ die Notwen­dig­keit einer natür­li­chen Ökono­mie — trotz verständ­li­cher Skrupel.
– - -

„Die Biolo­gie ist von ökono­mi­schen Sicht­wei­sen durch­drun­gen, nun muss umge­kehrt die Ökono­mie von der Biolo­gie erhellt werden. Dies ist nicht möglich, solan­ge jeder ahnt oder weiß, dass ein direk­tes Über­tra­gen darwi­nis­ti­scher Sicht auf wirt­schaft­li­che und sozia­le Vorgän­ge gesell­schaft­li­ches Chaos und ‚Sozi­al­dar­wi­nis­mus’ nach sich zieht. Haben wir aber den Kreis­lauf von Gier und Angst durch­bro­chen und den Darwi­nis­mus über­wun­den, können wir neu aus der Verwandt­schaft selbst­or­ga­ni­sier­ter Syste­me lernen.“
– - -

Was bedeu­tet das konkret? Die gelern­te Forst­wis­sen­schaft­le­rin Mayer-Gampe meint: „Nicht die freien Markt­kräf­te sollen Zutritt zum Wald bekom­men, wie es so mancher Neoli­be­ra­le fordert, sondern die freien Wald­kräf­te den Zutritt zum Markt. (…) Der Wald als hoch entwi­ckel­tes Ökosys­tem lehrt die Dyna­mik der Gestal­ten und ihrer Viel­falt. Der ursprüng­lich in der Wald­wirt­schaft gepräg­te Begriff der Nach­hal­tig­keit, des ‚sustainable use‘, muss der Maßstab sein, an dem das Wirt­schafts­sys­tem gemes­sen wird.“
– - -

Viel­falt in der Einheit
– - -

Unter­stüt­zung erhält Pia Mayer-Gampe von über­ra­schen­der Seite. Der heuti­ge König und dama­li­ge briti­sche Thron­fol­ger Charles verfass­te 2010 sein inspi­rie­ren­des Sach­buch „Harmo­nie“. Darin führt er seine Vision einer lebens­wer­ten Welt vor allem auf den Faktor „Natür­lich­keit“ zurück.
– - -

Norma­ler­wei­se, so Charles, werde vor allem der darwi­nis­ti­sche Kampf ums Dasein als natür­lich ange­se­hen. Für ihn bedeu­tet Natur jedoch vor allem die Verbin­dung von Viel­falt und Einheit — die Defi­ni­ti­on von „Harmo­nie“.
– - -

Viel­falt schließt vor allem Mono­kul­tu­ren aller Art aus: in der Land­wirt­schaft wie in der Archi­tek­tur oder Medi­zin. „Natür­lich“ ist aber auch das mensch­li­che Maß, der Verzicht auf Über­grö­ßen. Einschüch­tern­de Hoch­haus­blö­cke verlet­zen das Gesetz der Harmo­nie ebenso wie Mega­ci­tys und mono­to­ne Anbau­flä­chen bis zum Horizont.
– - -

Nicht zuletzt bedeu­tet Natür­lich­keit jedoch auch Schön­heit. Die Betrach­tung eines Berg­sees, einer unbe­rühr­ten Moor­land­schaft oder eines Urwalds können uns ein Gefühl tiefer Ruhe und Ehrfurcht einflö­ßen. Für Charles zeigt sich Schön­heit als das intui­ti­ve Wissen, dass etwas „stimmt“. Warum sonst fühlen wir uns in einem alten, gewach­se­nen Stadt­kern wohler als in Traban­ten­städ­ten voller Hochhausriesen?
– - -

Große Meis­ter der Kunst wuss­ten um die Geheim­nis­se der Schön­heit. Sie liegen in ausge­wo­ge­nen Propor­tio­nen und in dem Prin­zip, dass jeder Ausschnitt nur als Teil eines Ganzen seinen Sinn erhält. Hierzu zitiert Charles einen Satz von Wendell Berry: „Nichts exis­tiert um seinet­we­gen, sondern nur um einer höhe­ren Harmo­nie willen, an der es Anteil hat.“ Schön­heit und ökolo­gi­sche Vernunft folgen also dem glei­chen Grund­satz — und dies sollte auch für die Ökono­mie gelten.
– - -

Im Folgen­dem also ein paar Merk­ma­le natür­li­cher Ökono­mie, die ich für beson­ders wich­tig halte.
– - -

Gammeln­des Geld
– - -

Nichts wird durch Liegen­blei­ben wert­vol­ler. Im Gegen­teil: Häuser, die man nicht pflegt, verfal­len inner­halb von Jahr­zehn­ten. Obst und Gemüse gammelt nach ein paar Tagen. Nur Geld hat die rätsel­haf­te Eigen­schaft, dass es „von allein“ mehr wird: durch Zins und Zinseszins.
– - -

Wer Geld besitzt, hat also einen Konkur­renz­vor­teil gegen­über demje­ni­gen, der den glei­chen Wert in Form von Äpfeln und Birnen besitzt. Infol­ge­des­sen wird Geld gern gehor­tet und so dem Wirt­schafts­kreis­lauf entzo­gen. Eine natür­li­che Wirt­schafts­ord­nung, wie sie Silvio Gesell nahe­legt, würde beinhal­ten, dass Geld — wie die Natur­phä­no­me­ne — mit der Zeit an Wert verliert. Dieses „gammeln­de“ oder „rosten­de“ Geld wird unter ande­rem in regio­na­len Komple­men­tär­wäh­run­gen wie dem „Chiem­gau­er“ eingesetzt.
– - -

Gren­zen des Wachstums
– - -

Ein Baum oder eine Blume wach­sen in ihrer ersten Lebens­pha­se ziem­lich schnell. Dann verlang­samt sich ihr Wachs­tum, bis sie die natür­li­che Größe eines erwach­se­nen Orga­nis­mus erreicht haben. Diese opti­ma­le Größe behal­ten sie meist bis zum Ster­be­pro­zess bei. Bei unna­tür­li­chem Wachs­tum wächst jedoch auch die Wachs­tums­ra­te, und es gibt keine gesun­de Obergrenze.
– - -

Vermö­gen und Schul­den können zum Beispiel gemäß einer Expo­nen­ti­al­kur­ve wach­sen. Wächst ein Einzel­ele­ment inner­halb eines selbst­or­ga­ni­sier­ten Systems unbe­grenzt, so zerstört es seinen „Wirts­kör­per“. Dies ist der Fall bei einem Krebs­ge­schwür. In der Ökono­mie ist diese Dyna­mik vergleich­bar mit einem Mono­po­ly-Spiel, als dessen Ergeb­nis einer alles und alle ande­ren nichts besit­zen. Natür­li­che Ökono­mie würde diese Art von Wachs­tum verhindern.
– - -

Ener­gie muss frei fließen
– - -

Der Wirt­schafts­wis­sen­schaft­ler Bernd Senf hat auf ein beson­ders wich­ti­ges Kenn­zei­chen natür­li­cher Ökono­mie hinge­wie­sen, indem er das Werk dreier Vorden­ker unter­schied­li­cher Diszi­pli­nen mitein­an­der verglich. Der Psycho­lo­ge Wilhelm Reich, der Natur­for­scher Viktor Schau­ber­ger und der Ökonom Silvio Gesell kamen unab­hän­gig vonein­an­der zu dem glei­chen Ergebnis:

Die Gesund­heit in einem System setzt freies Flie­ßen von Ener­gien voraus. Blocka­den führen zur „Erkran­kung“; die Aufhe­bung dieser Blocka­de ist die Lösung.
– - -

Mehr online
– - –