Hat die Europäische Zentralbank ein Tabu gebrochen? – Felix Fuders / Dirk Löhr
Silvio Gesells Idee war es, dem Bargeld Durchhaltekosten aufzuerlegen, damit dieses nicht unbegrenzt gehortet werden kann. Dafür sollten z. B. Gebührenmarken in regelmäßigen Zeitabständen auf Geldscheine geklebt werden müssen, damit diese ihren Wert erhalten. Um Gesells Vorschlag zu verstehen, muss man sich vergegenwärtigen, dass Geld in unserem heutigen Finanzsystem zwei sich widersprechende Funktionen erfüllen soll. Einerseits ist Geld ein Tauschmittel, es soll den Austausch von Gütern erleichtern (so bereits Aristoteles). Andererseits lesen wir in Lehrbüchern, dass Geld auch die Funktion eines Wertaufbewahrungsmittels erfüllt. Silvio Gesell erkannte, dass aus diesem Widerspruch die regelmäßig wiederkehrenden Finanzkrisen entstehen. Wenn nämlich Menschen ihr Geld unter dem Kopfkissen horten, so kann es nicht gleichzeitig als Tauschmittel fungieren. Wenn viele Menschen ihr Geld zu Hause aufbewahren, so fehlt dieses im Wirtschaftskreislauf, die Nachfrage sinkt, Preise sinken, es entsteht Deflation. Wenn Preise sinken, ist der Anreiz, das Geld lieber später als heute auszugeben noch größer, was die Tendenz zum Horten noch stärkt. Selbst gesunde Unternehmen müssen die Produktion drosseln oder ganz stilllegen, weil kaum noch etwas gekauft wird. Die Arbeitslosigkeit steigt. Eine Abwärtsspirale mit schlimmen Folgen kommt in den Gang.
Die Tatsache, dass sich ein Mitglied des EZB-Direktoriums bei der Kommentierung der historischen Entscheidung, negative Einlagenzinsen festzulegen, auf Silvio Gesell bezieht, ist vielleicht noch bemerkenswerter als die Tatsache selbst, dass die EZB erstmals einen negativen Zinssatz für Einlagen verhängt hat. Tatsächlich hat eine solche „Parkgebühr“ für Gelder, die Geschäftsbanken bei der Zentralbank deponieren, Ähnlichkeit mit dem Vorschlag Gesells. Vor diesem Hintergrund hat die Rede Cœurés, die sich ausdrücklich auf Gesell bezieht, bei manch kritischem Betrachter des heutigen Geldwesens vielleicht neue Hoffnungen erweckt; Hoffnungen, dass die EZB nun auf den Kurs von Gesell einschwenken könnte.
Bei näherem Hinsehen wird allerdings deutlich, dass derzeit noch kein Grund für einen Freudentaumel besteht: Zunächst wird eine Belastung des umlaufenden Bargeldes durch Cœuré überhaupt nicht thematisiert. Er hält das Problem offenbar allein deswegen schon für gelöst, weil beim Zahlungsverkehr Transaktionskosten anfallen. Cœuré übersieht jedoch dabei, dass die von Gesell und im Übrigen auch von Keynes befürworteten Durchhaltekosten, die dem Geld seine Funktion als Wertaufbewahrungsmittel nehmen sollen, einen anderen Charakter haben als die von Cœuré angeführten Transaktionskosten, welche im Kontext der Tausch- und Zahlungsmittelfunktion entstehen.
Ebenso wenig werden die Sichteinlagen bei privaten Geschäftsbanken erwähnt, die zumindest beim derzeitigen Einlagensatz von minus 0,20 % noch so gut wie überhaupt keine Weiterbelastung erfahren. Zwar erheben bereits einige Banken „Strafzinsen“ auf Einlagen der Geschäftskunden und in einem Fall, namentlich der Skat-Bank, auch auf Einlagen im Privatkundenverkehr, die 500.000 € überschreiten. Trotz der Strafzinsen, die Geschäftsbanken nun für Einlagen bei der EZB zahlen müssen, wird den Banken aber vorgehalten, sie würden das Geld lieber bei der EZB parken, anstelle Kredite zu vergeben. Das Handelsblatt titelte jüngst: „Banken ertrinken im Geld – Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik übersteigen die Einlagen die ausgereichten Kredite“. Von einem allgemeinen Negativzins auf Giralgeld sind wir also noch weit entfernt. Das gilt umso mehr, wenn man die positiven Liquiditätsprämien betrachtet, die selbst im ertragslosen Zustand (wie auch bei Bargeld) noch zu einem deutlich positiven Eigenzinssatz (Keynes) führen.
Die Niedrigzinspolitik findet derzeit am kurzen Ende des Geld- und Kapitalmarktes statt. Am langen Ende sind die Zinsen durchaus noch deutlich sichtbar und können nicht nur durch Arbeits- und Risikokosten der Kreditinstitute begründet werden, wie dies Cœuré tut. Selbst, wenn die Zentralbank dazu übergeht, auch mit dem Refinanzierungssatz in einen deutlich negativen Bereich zu gehen, ändert sich hieran nichts. Der Grund hierfür ist, dass die Liquiditätsprämie des Geldes nicht „automatisch“ durch die großzügige Emissionspolitik der Zentralbank verschwinden wird. Sie kommt im Geldverkehr zwischen Privaten wieder zum Vorschein. Die Parkgebühr für das Bunkern von Geldern der Geschäftsbanken bei der EZB müsste daher so hoch sein, dass Banken auf alle Sichteinlagen ihrer Kunden Gebühren erheben und Kredite kostenlos wären. Leider wird die 0,20 % Gebühr auf Einlagen, die Geschäftsbanken bei der Europäischen Zentralbank halten, wohl kaum genug Druck ausüben, um den Zinssatz, den Privatkunden bei ihren Banken für Kredite zahlen, gegen null tendieren zu lassen. Die Art und Weise wie die EZB die Idee Silvio Gesells derzeit umsetzt, wird also sehr wahrscheinlich nicht die Probleme unseres Finanzsystems lösen. Es besteht allerdings die Gefahr, dass man nach einem Zusammenbruch des Finanzsystems sagen wird: Schaut her, Silvio Gesells Idee hat auch nicht funktioniert.
Im Übrigen vermisst man in der Rede Cœurés Gedanken über das Zusammenspiel zwischen Geldumlaufsicherungsgebühr bzw. “Negativzins” und der Eigentumsordnung, wie sie für Gesell und auch für Keynes eine hohe Bedeutung hatten: Ist ein “Negativzins” bei einem positiven Eigenzinssatz (Keynes) von Land und Natur (im Privateigentum) überhaupt möglich? Oder stehen Arbitrageprozesse dagegen, die das Geld v. a. in Immobilien und Aktien schwappen lassen? Der Bodenwert ergibt sich näherungsweise aus der Bodenrente, dividiert durch den (Real-) Zinssatz; der Unternehmenswert aus der ökonomischen Rente des Unternehmens, dividiert durch den (Real-) Zinssatz. Welches sind die Auswirkungen einer “Negativzinspolitik” auf Assetpreisinflationen, v. a. auf den Immobilien- und Aktienmärkten? Kommt es zu einer Vermögenspreisexplosion, die z. B. Wohnen unerschwinglich werden lässt? An dieser Stelle wäre es schön gewesen, von Cœuré ein Wort darüber zu hören, dass die Niedrigzinspolitik der EZB durch eine Politik der Abschöpfung der ökonomischen Renten im Euroraum begleitet werden sollte.
Es bleibt also festzuhalten: Die Rede von Cœuré ist ein gewaltiger gedanklicher Sprung und könnte der Vorbote eines Paradigmenwechsels der EZB sein. Die derzeitige Politik der EZB ist allerdings noch weit weg von der Blaupause, die Silvio Gesell vorschwebte. Warten wir also ab, was da noch folgt.
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