Für die Balance – Editorial 02–2021
Wenn Leser oder Autoren auf uns stoßen, taucht die Frage oft gleich zu Beginn der sich anbahnenden Partnerschaft auf: Wofür steht die HUMANE WIRTSCHAFT? Welchem Zweck dient sie?
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Die Frage zwingt einen, sich einen Umstand für das Streben zu einem Ziel herauszupicken, obwohl es derer viele gibt. Jedenfalls braucht der Veränderungswillen einen Bestimmungsort. Für Menschen, die sich einer komplexen Welt bewusst sind, ist das nicht leicht. Abenteuerreisen enden häufig nicht am ursprünglichen Ziel. Hier befasse ich mich zur Beantwortung der Frage mit einem Zustand:
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Mit der HUMANEN WIRTSCHAFT wollen wir einen Beitrag leisten, wodurch die aus dem Gleichgewicht geratene Welt zur Balance findet. Wir konzentrieren uns bei dieser Aufgabe auf Grundlagen des Wirtschaftssystems, weil wir in der Ökonomie das Fundament menschlichen Zusammenlebens sehen. Soziale Verwerfungen, Ungleichheit, die Kluft zwischen Arm und Reich, die Klimaveränderung, massive Umweltschäden, Gewalt, Kriege, Unruhen, Nationalismus, Rassismus und mehr. All das sind Symptome einer in mehrerlei Hinsicht aus dem Gleichgewicht geratenen Welt. Das Ökosystem Erde hat viele Brandherde. Und immer ist es relativ leicht, einen Zusammenhang zu wirtschaftlichem Handeln herzustellen. Deshalb sind fundamentale Wirtschaftssystemänderungen nötig.
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Ein Mittel dafür können bewusst eingesetzte, wohldosierte Rückkopplungen sein. Der Staat kann Steuern erheben, um ausgleichend zu wirken. Eine häufig verwendete Rückkopplungsmaßnahme. Wenn jedoch versucht wird, wie das bei Armut und Reichtum der Fall ist, das Ergebnis (das Symptom) zu behandeln, hat man es schwer. Unaufhörlich ist man gezwungen, den einen wegzunehmen und anderen zu geben. Ein Kampf, der nur Verlierer hinterlässt. Maßnahmen, die eine tiefe Vermögenskluft erst gar nicht entstehen ließen, wären geeignet, sich ausgleichender Gerechtigkeit anzunähern, ohne Leistung herabzuwürdigen.
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Wissenschaftler finden einleuchtende Argumente, wonach es auf Dauer kein Gleichgewicht geben kann. Bei Störungen führten demnach unaufhörliche Rückkopplungsreaktionen abwechselnd zu entspannten und turbulenten Phasen. Das sei völlig normal. Mit einer von Hoffnungslosigkeit geprägten Haltung ließe sich argumentieren, dass nicht endende Katastrophen auch eine Form von Stabilität darstellen.
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Was Menschen sich ausdenken, können sie gleichfalls verändern. Im Wirtschaftssystem findet man Stellschrauben, mit deren Hilfe sich gezielte Ausgleichsmaßnahmen bewirken lassen.
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Man erforschte, mit welcher Geschwindigkeit sich im menschlichen Körpergefüge aus Milliarden von Zellen Verfall und Erneuerung abspielen. Zwischen 10 und 50 Millionen Körperzellen baut ein Mensch pro Sekunde ab und erneuert sie gleichzeitig. Ein unaufhörliches Wechselspiel von Absterben und Neuerschaffen. Darin gleicht der Mensch allem anderen organischen Dasein. Das Weiterreichen der Fackel des Lebens bedarf der Sterblichkeit. Dadurch bleibt ihre Energie dauerhaft erhalten. Das Leben zeigt uns, dass es ohne Vergehen keines wäre. Die Vergänglichkeit ist die nicht versiegende Quelle der Lebensenergie. Eine lebenserhaltende Rückkopplung, worin das ewig junge Leben selbst den Gleichgewichtszustand veranschaulicht. Ständig verwundbar, aber dennoch resilient.
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Daraus schlussfolgere ich, dass es erstrebenswert ist, unsere Gemeinschaften entsprechend zu organisieren. Wirtschaft ist ein unaufhörlicher Austauschprozess, wie er auch überall in der Natur vorkommt. Deshalb brauchen wir Verfall, wenn wir Lebendigkeit befördern wollen. Die Anhänger von Cradle-to-Cradle für Konsumgüter befinden sich auf dieser Spur. Sie greifen den Kreislaufgedanken auf und wollen erreichen, dass eine einmal der Natur entnommene Ressource für immer nutzbar bleibt. Sie wird nie mehr weggeworfen, sondern aus ihr entsteht nach Ende einer Nutzung eine neue. So behält die Ressource ewige „Frische“. Dieses Prinzip könnte einleuchtender nicht sein. Dennoch führt es – wie viele andere großartige Ideen aus dem Nachhaltigkeitsdiskurs – ein Mauerblümchendasein. Es fehlt die Kraft, sich gegen eine Grundregel durchzusetzen, die unumstößlich die Weltwirtschaft beherrscht. Die Müllproduktion und ‑entsorgung, die Reparatur der dadurch verursachten Umweltschäden sowie die ständig weiterlaufende Ausbeutung natürlicher Ressourcen für unaufhörliches Neuherstellen rentieren sich. Kapital verfällt nicht. Es wächst immer weiter. Es wird vererbt und wächst noch weiter. Unter Beachtung dieser Regel können alle machen, was sie wollen, auch neue Methoden für einen schonenden Umgang mit der Umwelt ausprobieren. Hauptsache man rüttelt nicht am Prinzip. Dem Kapital ist es egal, ob der 3 Tonnen wiegende SUV zur Beförderung von 80 kg Mensch mit einem Dieselmotor oder von einer 500 kg schweren Batterie angetrieben wird. Unter dem Strich rentiert es sich und das ist alles, was zählt. Die Experten der Nachhaltigkeit werden es schon schaffen, ihre hehren Ziele unter Erhaltung der Kapitalrendite zu verwirklichen! Grünes Wachstum dient dem gleichen Zweck, wie das rußig schwarze der Wirtschaftswundernachkriegszeit. Damals wie heute wärmen Berge von „Kohle“ den Kapitalrentier.
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Damit zeigt sich, dass wirtschaftliches Handeln – das Herzstück unseres Zusammenlebens – auf einem Mechanismus beruht, den es vergleichbar in der lebendigen Natur nicht gibt. Wir bauen das Miteinander auf einem Widerspruch auf. Diesen Zustand zu beenden, dafür stehen wir.
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Aus der Vergänglichkeit
schöpft die Frische des Lebens ihre Kraft.
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Herzlich grüßt Ihr
Andreas Bangemann
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