Flucht vor der Verantwortung – Editorial
Brauchen wir Katastrophen, um uns der Tatsache bewusst zu werden, dass der Planet Erde eine ausbalancierte Solidargemeinschaft der Gesamtheit von Organismen ist? Wie engstirnig ist der Glaube, man könne ein isoliertes gutes Leben in einer Welt führen, die – menschengemacht – sozial und ökologisch schleichend vor die Hunde geht? Man betet das Mantra des „Alles-ist-mit-allem-verbunden“ und hofft zugleich, es sei machbar, künstlich eine schützende Membrane zu modellieren, die nur durchlässt, was lohnend erscheint. Eine Schutzschicht, außerhalb der man den Abfall seiner Taten in unbedenklichem Abstand „endlagern“ kann.
Die Politik betreibt einen neumodischen Protektionismus. Früher schützte man die heimische Wirtschaft mit hohen Einfuhrzöllen gegen ausländische Unternehmen. Das ist in Zeiten der Globalisierung verpönt. Heutzutage fördert man geschickt die Ausfuhren. Über viele Jahre hinweg wurde mit EU-Agrarsubventionen die Nahrungsmittelproduktion in Afrika nachhaltig geschädigt. Seit 2014 baut Europa diese Subventionen „langsam“ ab; wer glaubt, demzufolge blühe die regionale Wirtschaft in den Drittwelt-Regionen auf, der irrt gewaltig. An die Stelle der Subventionen rücken Handelskontrakte. Die zwingen die Länder zu Importen, die sie nicht bräuchten, weil die eigene Volkswirtschaft leistungsfähig genug wäre – bzw. sich entwickeln ließe – ohne Einfuhren auszukommen.
Der heimlichtuerische Polit-Aktivismus für Handelsverträge bekommt damit eine bisher kaum beachtete weitere Facette. Wir starren wegen TTIP auf die amerikanischen Chlorhühnchen, unterdessen sind es die europäischen „Massentierhaltungs-Broiler“, die in Südafrika zum Zusammenbruch eines ganzen Wirtschaftszweigs führen. Längst bestehende Handelsabkommen für Geflügeleinfuhren bewirken das.
Die Liste der Sündenfälle ließe sich unendlich fortführen. Oberflächlich dient alles der jeweiligen nationalen Wirtschaft. Genau betrachtet ist unser Handeln zumindest mitverursachend in Bezug auf die Flüchtlingsheere, die jetzt zu Hunderten im Mittelmeer zwischen Afrika und Europa ums Leben kommen. Gezwungenermaßen entsteht eine zusätzliche Form des Protektionismus: Wir müssen unsere Sicherheit schützen, unsere Arbeit, unsere Freiheit, unseren Wohlstand und unser Eigentum. Die Flüchtlinge, bei deren Entzug der Lebensgrundlage wir im Nebel eines komplexen Systems aus Macht und Geld aktiv mitwirkten und verdienten, werden zu einer Bedrohung. Trotz katastrophalster Not hilfebedürftiger Menschen sind die Anstrengungen für die eigenen Schutzmaßnahmen stärker als die Hilfen für die Betroffenen.
Westliche Entwicklungshilfe dient der Maskerade für die verheerende Politik der Befreiung von Kapitalinteressen. Die Entgrenzung des Kapitals geht einher mit Ghettoisierung von Verlierern des zerstörerischen Spiels. Die Gewinner müssen mit Gewalt für Sicherheit sorgen. Im Namen der Menschlichkeit versenken sie die Boote der Schlepper, die für die Ausgegrenzten Freiheit bedeuten würden. Was für eine triviale Farce das ist!
Die Verschleierung der wahren Ursachen in der Komplexität einer globalisierten Unverantwortlichkeit fällt leicht. In Zeiten der akuten Not retten theoretische Analysen keine Menschenleben. Umso besser für die Politik, die sich mit ihrem bevorzugten Métier befassen kann: der Bekämpfung von Symptomen. Die Flucht vor der Verantwortung in den reichen Ländern ist himmelschreiend und beschämend. Es wäre an der Zeit, grundlegenden Fragen nachzugehen. Beispielsweise, wie es sein kann, dass rund 350 Menschen – in etwa die Zahl, die auf eine libysche Flüchtlingsdschunke passt – über Geldvermögen verfügen, das höher ist als das der 3,5 Milliarden Ärmsten der Welt? Dicht gedrängt stehend würden Letztere die Fläche des westlichen Mittelmeers füllen.
Genauso nebulös wie die dunklen Kanäle des Geldes und der Macht sind die Wirkungen eines Geldsystems, das in Jahrzehnten die Menschheit spalten konnte. Überall auf der Welt ziehen die Kapitalinteressen die Grenzen, an denen unerbittliche Grenzwächter stehen. Vertreter von Menschlichkeit oder Umweltschutz bekommen nur Einlass, wenn ihr Anliegen Wachstum und Gewinnstreben dienstbar zu machen ist. Wem globale Verantwortung am Herzen liegt, muss sich im Kampf gegen jene behaupten, von welchen man sie wie selbstverständlich erwarten würde: den demokratisch gewählten Politikern.
Seit Jahren ergreife ich mit dem Schreiben und der Arbeit an dieser Zeitschrift Partei für das, was notwendige Veränderung bedeutet. Und gegen das, was nicht bleiben darf, wie es ist. Im Mittelpunkt steht hierbei vor allem das Geld. Das menschengemachte System, dessen Wirkungen unser Handeln leiten. Selten direkt sondern als milieubestimmendes globales Gesellschaftsklima. Gäbe es Ihre Unterstützung nicht, verehrte Leserinnen und Leser, mir fehlte die Kraft, Mut machende Projekte, wie den in der vorliegenden Ausgabe beschriebenen Lernort voranzutreiben. Danke für Ihre Treue. Bleiben Sie uns gewogen.
Herzlich grüßt Ihr Andreas Bangemann
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