Einfach nicht abgebrüht – Charles Eisenstein

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Über die Umwand­lung des wahren Reichtums
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„Sie sind einfach nicht abge­brüht.“ So beschrieb jemand die Menschen, denen er bei seinem jüngs­ten Besuch in einem Kran­ken­haus in Costa Rica begeg­ne­te. Die Ärztin­nen und Kran­ken­pfle­ger seien so herz­lich, freund­lich und aufrich­tig gewe­sen; sie gaben ihm sogar ihre persön­li­chen Handy­num­mern. „Rufen Sie uns an, wenn Sie etwas brauchen.“
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Stella behan­del­te diesen Mann in einem Ökodorf in Costa Rica, wo wir ein paar Wochen verbrach­ten. Während der Behand­lung verkauf­te ein ande­rer Mann Erdbee­ren an der Tür. Als er den offen­sicht­lich kran­ken Mann sah, erkun­dig­te er sich mit deut­li­cher Besorg­nis nach dessen Gesund­heits­zu­stand und drück­te ihm aufrich­tig sein Mitge­fühl und seine guten Wünsche aus. Er war wirk­lich besorgt. Sein Verhal­ten war nicht gespielt.
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Es ist verlo­ckend, diese Art von Aufrich­tig­keit dem Natio­nal­cha­rak­ter zuzu­schrei­ben, einer Eigen­art des Landes, der Tradi­tio­nen, der Poli­tik oder der Ursprün­ge Costa Ricas. Ich möchte jedoch eine andere Erklä­rung anbie­ten, die viel­leicht etwas Licht auf das wirft, was wir (in moder­nen Gesell­schaf­ten) verlo­ren haben und wie wir es zurück­ge­win­nen können. Denn das Klischee vom einfa­chen Land­volk, das ehrlich, freund­lich und naiv ist, ist nicht auf Costa Rica beschränkt.
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Die Erklä­rung ist im weites­ten Sinne ökono­mi­scher Natur. Die Geschich­te des Wirt­schafts­wachs­tums der letz­ten Jahr­hun­der­te ist eine Geschich­te der Umwand­lung von nicht mone­ta­ri­sier­ten Formen des Reich­tums – ich nenne sie sozia­les, kultu­rel­les und spiri­tu­el­les Kapi­tal und Natur­ka­pi­tal – in mone­ta­ri­sier­te Güter und Dienst­leis­tun­gen. Auf die Gefahr hin, dass Sie glau­ben könn­ten, ich wolle eine Anti-Geld-Debat­te begin­nen, werde ich die Umwand­lung der einzel­nen Formen kurz erläutern.
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Natur­ka­pi­tal bezieht sich auf den Reich­tum an Land, Boden, Wasser und leben­di­ger Welt. Durch seine Umwand­lung werden Wälder zu Bret­tern, Ökosys­te­me zu Tage­bau­en, Erde zu Rohstof­fen, Ozea­nen zu Produk­ti­ons­an­la­gen für Meeres­früch­te und letzt­end­lich wird all dies zu Geld.
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Sozia­les Kapi­tal bezieht sich auf die Prak­ti­ken und Fähig­kei­ten, mit denen Menschen fürein­an­der sorgen. Seine Umwand­lung über­setzt diese in bezahl­te Dienst­leis­tun­gen: Kochen, Kinder­be­treu­ung, Unter­hal­tung, Heilung, Kommu­ni­ka­ti­on, Spiel und viele andere Funk­tio­nen sind jetzt käuf­li­che Dienst­leis­tun­gen. Vor eini­gen Gene­ra­tio­nen gehör­ten sie zum sozia­len Gemein­gut, erbracht in infor­mel­len Syste­men der gegen­sei­ti­gen Hilfe, des Schen­kens und der Wech­sel­be­zie­hung inner­halb von Fami­li­en oder Gemein­schaf­ten. Manche nennen den Prozess ihres Verlus­tes „Deskil­ling“ (Quali­fi­ka­ti­ons­ver­lust).
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Kultu­rel­les Kapi­tal umfasst Musik, Lite­ra­tur, Kunst, Ideen und alles andere, was zu geis­ti­gem Eigen­tum gewor­den ist. So wie das Land, welches ursprüng­lich Gemein­gut war, nach und nach in Privat­be­sitz über­ging, so wurde auch das kultu­rel­le Gemein­gut in einzel­ne, durch Bezahl­schran­ken abge­trenn­te Besitz­stän­de aufge­teilt. Was einst eine gemein­sa­me Währung war, ist inzwi­schen in die Hände von Fach­leu­ten und Exper­ten übergegangen.
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Spiri­tu­el­les Kapi­tal bezieht sich auf wich­ti­ge mensch­li­che Tugen­den und Fähig­kei­ten wie Acht­sam­keit, Humor, Phan­ta­sie, Krea­ti­vi­tät, Freund­lich­keit, Groß­zü­gig­keit, gesun­den Menschen­ver­stand, Initia­ti­ve, Selbst­be­wusst­sein und Vertrau­en. Seine Mone­ta­ri­sie­rung erfolgt manch­mal direkt, z.B. wenn die künst­li­chen Bilder des Fern­se­hens und des Kinos die selbst geschaf­fe­nen Bilder, die wir Phan­ta­sie nennen, verdrän­gen, oder wenn die Schein­aben­teu­er der Video­spie­le bewir­ken, dass die Ausein­an­der­set­zung mit Grenz­be­rei­chen der Reali­tät unter­bleibt. Meis­tens geschieht dies jedoch indi­rekt. Passi­ve, depres­si­ve, entfrem­de­te und einsa­me Menschen sind will­fäh­ri­ge Konsumenten.
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Die Umwand­lung von Natur­ka­pi­tal und sozia­lem, kultu­rel­lem und spiri­tu­el­lem Kapi­tal in Geld wird von wirt­schaft­li­chen Kräf­ten voran­ge­trie­ben, die so tief gehen, dass sie in der Natur des Geldes selbst wurzeln, genau­er gesagt: des Geldes in seiner derzei­ti­gen Form als verzins­li­che Schuld. Es ist darauf ange­legt, immer weiter zu wach­sen, wodurch die nicht mone­ta­ri­sier­ten Gemein­gü­ter immer weiter schrumpfen.
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Ökono­men und Poli­ti­ker feiern diesen Prozess und nennen ihn Wirt­schafts­wachs­tum. Im tiefe­ren Sinne handelt es sich dabei aber um eine wirt­schaft­li­che Umwandlung.
Jeder Teil der Welt, der noch reich an Natur­ka­pi­tal und sozia­lem, kultu­rel­lem oder spiri­tu­el­lem Kapi­tal ist, ist ein lohnen­des Ziel für Kolo­nia­lis­mus und Impe­ria­lis­mus. Man nennt das einen „unent­wi­ckel­ten Markt“. Es lässt sich viel Geld verdie­nen, wenn man Haus­manns­kost durch Take-Away-Essen ersetzt, wenn man Kinder, die im Freien spie­len, in Kinder­ta­ges­stät­ten betreut, wenn man univer­sel­le Fertig­kei­ten im Haus­bau durch die Bau- und Immo­bi­li­en­wirt­schaft ersetzt, wenn man gegen­sei­ti­ge Hilfe im Unglück durch Versi­che­run­gen, weise Ratschlä­ge von Älte­ren durch Lebens­be­ra­tung und gemein­sa­mes Singen durch Musik­strea­ming­diens­te ersetzt.
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Auch dort, wo Menschen noch vertrau­ens­voll und ehrlich sind, wo sie sich noch nicht die Schli­che und den Argwohn des moder­nen Verbrau­chers ange­wöhnt haben, lässt sich viel Geld verdie­nen. Mit der Zeit jedoch, wenn die Menschen lange genug Verkaufs­stra­te­gien, Verpa­ckung, Werbung und Abzo­cke ausge­setzt sind, stump­fen sie ab. Wenn sie nicht mehr die gegen­sei­ti­ge Hilfe im Schoß der Gemein­schaft genie­ßen, werden sie zu Indi­vi­dua­lis­ten. Dort, wo Märkte und Geld am tiefs­ten einge­drun­gen sind, finden wir die geizigs­ten, vertrau­ens­lo­ses­ten, zynischs­ten und einsams­ten Menschen. Sie mögen eine gewis­se Art mate­ri­el­len Reich­tums haben, aber ihr wahrer Reich­tum wurde ihnen geplün­dert. Der kompen­sa­to­ri­sche Schein finan­zi­el­len Reich­tums kann niemals das verlo­re­ne sozia­le und spiri­tu­el­le Kapi­tal ernst­lich ersetzen.
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Natür­lich kann es auch andere Erklä­run­gen geben, aber über­all dort, wo Zynis­mus und Miss­trau­en weit verbrei­tet sind, ist es wahr­schein­lich, dass diese Form des sozial-spiri­tu­el­len Kapi­tals direkt oder indi­rekt aus Profit­grün­den abge­schöpft wurde.
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Was wegge­nom­men wurde, kann zurück­ge­won­nen werden. Wie können wir Bezie­hun­gen des Vertrau­ens – des Vertrau­ens inein­an­der und des Vertrau­ens in die mensch­li­che Natur – wieder­her­stel­len? Eine Möglich­keit besteht darin, den Prozess der Mone­ta­ri­sie­rung, der diese Bezie­hun­gen über­haupt erst zerstört hat, rück­gän­gig zu machen. Und wie? Indem wir die Kultur des Schen­kens wieder­her­stel­len, d. h. nicht-mone­tä­re Formen der Verbin­dung zwischen Gaben und Bedürfnissen.
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Eine Fami­lie hier in der Gemein­schaft war sehr groß­zü­gig und hat uns ihr Auto gelie­hen. Das schafft sozia­les Kapi­tal. Wir vertrau­en dieser Fami­lie, und darüber hinaus möch­ten wir ihr auch etwas Gutes tun. Und nicht nur ihr: Unser Vertrau­en in die Gemein­schaft als Ganzes wächst ebenso wie unser Wunsch, etwas für sie zu tun.
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