Eden wachgeküsst? – Dietrich Heißenbüttel
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„Unter ‚Lebensreform‘ können sich heute nur noch Wenige etwas vorstellen“, schreibt der damalige Vorstand der Eden-Genossenschaft Roland Bloeck 1993 in der Publikation „100 Jahre Eden. Eine Idee wird zur lebendigen Philosophie“. Und weiter: „Heute führt die alternative Bewegung die Lebensreform fort.“ In einem Kapitel, überschrieben „Was ist Lebensreform?“ stellt Judith Baumgartner, die den Text der 39-seitigen Broschüre verfasst hat, fest: „Lebensreform umfasst sämtliche Lebensbereiche, nämlich Arbeiten, Wohnen, Familie, Essen, Schlafen, Freizeit, Erziehung, Eigentum und Gesellschaft und versucht, reformbedürftige Verhältnisse zu verändern. Die Einzelbestrebungen sind vielfältig, ergänzen sich jedoch stets in ihrer gemeinsamen Idee, der Lebensreform.“
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Im großen, zweibändigen Katalog der Darmstädter Ausstellung 2001, der umfangreichsten Publikation zum Thema, hatte Baumgarten festgehalten, die Oranienburger Obstbaukolonie sei „die älteste noch bestehende lebensreformerische Siedlungsgenossenschaft“. Nun hat sich das Rad der Geschichte weitergedreht und die Siedlung hat Ende Mai ihr 125-jähriges Bestehen gefeiert. Allerdings: Reform bedeutet Veränderung. Wie kann eine Reform 125 Jahre Bestand haben? Hat sie sich durchgesetzt? Oder verfolgt die Genossenschaft die Reformbestrebungen weiter, ohne nach 125 Jahren am Ziel angelangt zu sein? Oder müssten vielmehr die Reformgedanken immer wieder neu aufgegriffen und den veränderten Bedingungen angepasst, also selbst einer ständigen Revision unterzogen werden? Etwas in dieser Richtung stand hinter der Gründung des Vereins re:form in diesem Frühjahr: Der Doppelpunkt, der auch an die Programmiersprache erinnert, suggeriert als ambivalentes Zeichen, dass die Form der Reform einer Erneuerung – oder wie in der Musik-Notation, dass es einer Wiederholung der Reformprozesse bedarf.
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Ob sich die Gedanken der Lebensreform in Eden und darüber hinaus durchgesetzt haben, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Manches ist aufgegriffen worden, anderes bleibt ungelöst. Sicher ist, dass die Siedlung im Verlauf ihrer 125-jährigen Geschichte verschiedenerlei Veränderungen, auch Einschnitten unterworfen war, die keineswegs immer aus eigenem Antrieb zustande kamen. Bis zum achten Internationalen Vegetarierkongress, der 1932 in Eden stattfand, lässt sich resümieren: Eden war eine Erfolgsgeschichte. Erfindungen wie die großen, innen emaillierten Tankkessel zur Lagerung des Apfelsaftes, die pflanzliche „Eden-Butter“ oder Fleischersatzprodukte wie die vegetarische Bratenmasse „Gesunde Kraft“, die im 1898 gegründeten Obstverwertungsbetrieb produziert wurden und zum Teil bis heute unter der Marke Eden, wenn auch nicht mehr zugunsten der Eden-Genossenschaft, in Reformhäusern verkauft werden, ließen die Siedlungsgemeinschaft prosperieren.
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Die Einschnitte begannen in nationalsozialistischer Zeit. Die Siedlung war gespalten. Immerhin war der Zusammenhalt stark genug, um einigen, wenn auch nicht allen jüdischen Genossen, das Überleben zu sichern. In der DDR wurde wirtschaftliche Eigeninitiative nicht belohnt. Dennoch gelang den Siedlern als einzigen Ost-Betrieb, 1950 in Bad Soden im Taunus eine westliche Zweigstelle aufzumachen. Freilich verkauften die West-Genossen nach der Wende in aller Eile ihren Betrieb, ausgerechnet an den Sandoz-Chemiekonzern. Die Genossenschaft erhielt zwar ihren Anteil, war aber regelmäßiger Einkünfte beraubt. Das Geld ging überwiegend in der Finanzkrise 2008 verloren. Zudem war der Obstverwertungsbetrieb 1972 verstaatlicht worden. Wie alte Edener sagen, ging die Qualität daraufhin stark zurück. Eigeninitiative wurde nicht belohnt. Nach der Wende legte die Treuhand den Betrieb still.
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Noch zur 100-Jahr-Feier hatte eine Eden-Werkstatt ein „organisatorisches Leitbild für die Weiterentwicklung“ als „ökologische Siedlung Eden“ entworfen. Zustande kamen ein neuer Kindergarten mit der damals größten Lehmbaukuppel Europas und eine Mehrgenerationenanlage, die bis heute über einen Mangel an Bewerbern nicht klagen kann. Andere Pläne wurden nicht mehr verwirklicht. Nach dem Verlust ihres Kapitals musste die Genossenschaft ihre Finanzen konsolidieren. Bis heute streiten die Genossen über den Kurs: War es richtig, Gemeinschaft stiftende Einrichtungen wie die Bibliothek oder den redaktionellen Teil der seit 1992 neu herausgegebenen Edener Mitteilungen zu streichen, die seither zu einem Mitteilungsblatt des Vorstands geschrumpft sind? War es richtig, einen Geschäftsführer einzustellen, der eher nach betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten denkt und handelt, statt den Gemeinschaftsgedanken in den Mittelpunkt zu stellen? Dazu gab und gibt es verschiedene Meinungen.
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In dieser Situation zog das Berliner, der Herkunft nach bayrische Künstlerduo bankleer vor zwei Jahren nach Eden. Beseelt von den Gedanken der Lebensreform, in der sie die Vorläufer vieler heutiger Bewegungen entdeckten, wollten Karin Kasböck und Christoph Leitner, die auf dem Umweg über den Monte Verità bei Ascona nach Eden gefunden hatten, die frühe Reformsiedlung mit aktuellen Bestrebungen in Kontakt bringen, wie sie ihnen aus ihrem Berliner Umfeld vielfach bekannt sind. Zu prüfen, was die Gedanken der Eden-Gründer heutigen Künstlern, Initiativen oder Wissenschaftlern noch zu sagen haben, war eine Stoßrichtung. Umgekehrt war die Siedlung Eden selbst zwar von Berlinern gegründet worden und anfangs mit der Großstadt eng verbunden. Doch in neuerer Zeit, bedingt durch die deutsche Teilung, die politischen Gegebenheiten und die Altersstruktur, blieb der Radius der Wahrnehmung häufig auf Oranienburg beschränkt. In Berlin war Eden kaum noch bekannt. Ebenso wenig in Eden die vielfältigen, brodelnden neuen Entwicklungen der kunterbunten Berliner Alternativszene.
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Als HUMANE WIRTSCHAFT in Heft 2/2018 zuerst über das Projekt berichtete, das sich inzwischen Re-Eden nennt, befand sich Vieles noch im Fluss. Inzwischen haben drei von fünf Programmschwerpunkten stattgefunden. Vorab war schon ab April ein Seminar von Architekturstudentinnen und ‑studenten des Natural Building Lab und der Habitat Unit der Technischen Universität Berlin nach Eden gekommen, um aus wiederverwerteten Hölzern ein flexibles Mobiliar für den Außenraum zu zimmern, das sich je nach Bedarf für die verschiedensten Zwecke nutzen lässt: um Aufmerksamkeit auf einen Ort zu lenken; Veranstaltungen anzukündigen; als Anschlagfläche für die Wunschproduktion; Sitzgelegenheit, um sich über die hohen Edener Hecken hinweg zu unterhalten; oder alle Teile im Kreis zusammengestellt als „Agora“ für Versammlungen.
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Mit einer solchen Versammlung auf der traditionsreichen Edener Festwiese begann am 27. Mai das Projekt. Künstler, die eine Arbeit realisieren wollen, stellten sich vor, ebenso wie diejenigen, die zu Themen wie Selbstversorgung als Lebenskonzept, Mikrotechnologien für regenerative Energien, Archivarbeit, Ressource Wasser oder Freinet-Pädagogik einen Workshop anbieten wollen. Am frühen Nachmittag folgte ein Umzug durch die zentralen Teile der Siedlung, der nach langer Zeit wieder etwas vom früheren Gemeinschaftsgeist aufleben ließ. Elisa Zucchetti und Nandhan Molinaro hatten mit Kindern der Musikwerkstatt Eden und der Kinderschule Oberhavel, die beide im Herz der Siedlung ihren Sitz haben, ein Programm choreografiert. Drei ältere Edener führten als fantastische Paradiesvögel den Zug an. Zwei Chöre aus Berlin, wovon Zucchetti in einem selbst mitsingt, taten sich mit dem Edener Singekreis zusammen, um „Schöner Frühling komm doch wieder“ anzustimmen. Die Beteiligung der jüngsten und ältesten Bewohner der Siedlung zog ein großes Publikum von Angehörigen und Neugierigen an. Die Parade endete mit einem Maibaumtanz nach Anleitung der ältesten Edenerin.
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