Die hohe Kunst des Verzichts – Eine Buchrezension von Jörg Gude
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Inhalt und Anliegen des Buches sind im Klappentext treffend beschrieben: „Vom Verzichten als Mäßigung der Leidenschaften oder als religiöse Askese über die Einschränkung der eigenen Freiheit bis hin zur großen Verzichtaufgabe, die wir im Angesicht von Klimawandel und Artensterben nicht ignorieren dürfen. Otfried Höffes kurze Geschichte des Verzichts zeigt, dass ein gelingendes Leben ohne die hohe Kunst der freiwilligen Selbstbeschränkung nicht auskommen kann.“
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Höffe, selbst ein ausgewiesener Kant-Kenner, hat im Personenregister die meisten Bezüge auf Kant, Aristoteles, Platon und Nietzsche. Verzicht bedeutet Resilienz gegenüber der Herrschaft des Lustprinzips. Im theologischen und kirchlichen Umfeld vermisst Höffe die Betonung von Verzicht, Askese und Fasten, obgleich es doch um den Auftrag der Bewahrung der Schöpfung geht. Hauptaufgabe der Gegenwart sei die Beendigung des Raubbaus an der Natur und das Überbeanspruchen der Umwelt sowie die Begrenzung des Bevölkerungswachstums. Kollektiver und individueller Verzicht werden dazu notwendig sein.
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Der Autor arbeitet fünf verschiedene Verzichtsmuster heraus. Im Rechtsleben findet man Freiheitsverzichte um der Aufrechterhaltung der Freiheit willen. „Sobald nun die Herrschaft für die Knechtschaft als verantwortlich gilt, darf es die Herrschaft nicht geben.“ (S. 34). Rechtsverzichte gibt es auch für die Errichtung öffentlicher Rechte, die Legislative, Exekutive und Jurisdiktion. Das Strafrecht verbietet die Rache.
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Aus den biblischen Geboten, dem Dekalog aus 2. Buch Mose (Exodus) im 20. Kapitel, wiederholt in 5. Buch Mose (Deuteronomium) 5. Kapitel, arbeitet Höffe heraus, dass der zweite Teil der Gebote, der sich nicht unmittelbar auf die Beziehung des Menschen zu Gott, sondern vornehmlich zu seinen Mitmenschen bezieht, von allen Kulturen in das Strafrecht aufgenommen wurde: Freiheitsverzicht, um die Freiheit zu sichern.
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Das zweite Verzichtsmuster will Menschsein ermöglichen, und dies in zwei Stufen. Die erste Stufe ermöglicht das Menschsein in einem anspruchsvolleren Sinn. Lebenskunst, in der Philosophie der Griechen als Eudaimonia bezeichnet, liegt in der Eigenverantwortung des Menschen: „die Lebenskunst verlangt, im Rahmen der eigenen Begabungen und Möglichkeiten sich selbst zu entfalten, selbst Chancen zu ergreifen, Schwierigkeiten zu überwinden und insgesamt gelungen zu leben.“ (S. 52) In allen Kulturen finden sich Gemeinsamkeiten wie die Anerkennung der Goldenen Regel. Matthäus 7,12 in der Einheitsübersetzung: „Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen!“ Auch Kant hat sich darauf bezogen und ein allgemeines Gesetz formuliert. Als Kategorischer Imperativ. Kritisch dazu der Rezensent Jörg Gude: Wie libertär ist der Kategorische Imperativ? In: espero, Forum für libertäre Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, 18. Jhrg., Nummer 67, März 2011, S. 4 – 7.
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Die Sentenz medèn ágan im Altgriechischen oder Ne quid nimis im Lateinischen, übersetzt als Nichts im Übermaß, zählt auch zur Lebenskunst. Eine Spurensuche führt zu den Moralethikern, darunter auch zu Theodor W. Adorno und Ernst Bloch, Protogonisten der 68er-Bewegung. Mit Friedrich Nietzsche kommt die Entwicklung des Menschen aus der „längsten des Menschengeschlechts“ aus der Überwindung des Tierseins, indem er „berechenbar, regelmäßig, notwendig“ (S. 56) wird. Am Ende steht ein „souveränes Individuum …“ mit Macht „über sich und das Geschick“ (S. 57).
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Im dritten Verzichtsmuster oder Lebensideal geht es um die Steigerung des Menschseins. Die Beschäftigung mit Theorie verzichtet auf Nutzen, anders als etwa die Grundlagenforschung. Seelenruhe und Lebensweisheit sind Stichworte dieses Verzichtsmusters. Den Denkschulen der Epikureern und der Stoa wird nachgegangen, wobei das Streben nach Genuss bei den Epikureern auf Mitte und Maß zurückgeführt wird. Mit Kant solle man „die Tapferkeit des Stoikers mit der Fröhlichkeit Epikurs verbinden“ (S. 113). Das Fasten ist ein praktisches Verzichtsmuster, sei es religiös oder medizinisch verortet. Bei Nietzsche tritt mit der Geistigkeit eine Aristokratie, die sich ausschließlich der gegenwärtigen Person verdankt, an die Stelle einer Erbaristokratie, die von den Leistungen fremder Vorfahren lebt (vgl. S. 123f).
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Ethik aus der griechischen Philosophie mit den Kardinaltugenden Besonnenheit, Tapferkeit, Gerechtigkeit und Klugheit sind die Leitideen, die auch den Verzicht ermöglichen. Anzustreben ist eine Armut als „einer von Innen kommenden, ausdrücklich erklärten Anspruchslosigkeit“ (S. 120), Demut als Bescheidenheit und Keuschheit, wobei es mit Nietzsche keinen notwendigen Gegensatz zwischen Keuschheit und Sinnlichkeit gibt, weil jede gute Ehe, jede eigentliche Herzensliebschaft über diesen Gegensatz hinausweist.
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Praktischer wird das vierte Verzichtsmuster, weil es sich mit aktuellen Krisen und deren Bewältigung befasst. Krisenbewältigung durch Verzicht und Selbstbeschränkung stehen im Fokus. Die Immobilien- und Finanzkrise beleuchtet Höffe mit dem (vorbildlichen) Verzicht einiger Menschen, keine Hauskredite aufzunehmen. Nicht über die eigenen Verhältnisse zu leben, lautet der Ratschlag. Zur Nullzinsphase merkt der Autor an, dass diese den Staaten mit hoher Staatsverschuldung zugutekam, diese aber lieber noch mehr Schulden anhäuften. Als Volkswirt finde ich hier wenig Tiefgründiges in Analyse und Therapie. Es fehlt der Hinweis, dass Zinslasten in den Preisen einkalkuliert sind.
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Fragwürdig ist auch die Befassung mit der COVID-19-Pandemie sowie mit der Energiekrise, Um das Thema Verzicht rund zu machen, werden auch Grenzen des Verzichts angesprochen, die als unvernünftig angesehen werden. Ein Recht auf Arbeitsverzicht, auf Faulheit wird gleichermaßen abgelehnt. Mit Kapitalismuskritik und Kritik am Neoliberalismus kann der Autor wenig anfangen. Mit Max Weber sieht er im Kapitalismus eine Rationalisierung (Rechenhaftigkeit) und betont die Dauerhaftigkeit, wir würden sagen: Nachhaltigkeit des angestrebten Gewinns. Dem möchte ich argumentativ die Orientierung an kurzfristigen Quartalsgewinnen entgegenhalten. Auch Wohltätigkeit der Reichen und ihre heute in Frage zu stellende Besteuerung bucht Höffe auf der Habenseite.
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Das letzte und fünfte Verzichtsmuster befasst sich mit der Rettung des Planeten. Neben die privat notwendig werdenden Verzichte sollen kollektive, überstaatliche Verzichte hinsichtlich Bevölkerungsexplosion, Überbeanspruchung der Natur und Klimaproblematik treten. Der Panikmache tritt Höffe entgegen und ebenso Ernst Bloch mit dem Prinzip Hoffnung, indem er dessen Gegenspieler und Diskutanten Hans Jonas mit einer Heuristik der Furcht den Vorzug gibt. Aber Ökodiktatur und Gewaltanwendung durch Klima-Aktivisten, wie sie möglicherweise auch Jonas vorschwebt, werden abgelehnt. Dem „Club of Rome“ wird Einseitigkeit und fehlende Berücksichtigung der Wirkung steigender Preise vorgeworfen, letzteres zu Recht. Wohlstand dürfe nicht länger ausschließlich in Begriffen des materiellen Wohlstands gemessen werden. Regenwälder sollten den Ureinwohnern belassen werden.
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Bei alledem ist Prof. Höffe Philosoph geblieben, gemessen an dem Spruch: „Si tacuisset, philosophus mansisses“, übersetzt: Wenn Du geschwiegen hättest, wärst du Philosoph geblieben. Er schweigt, wenn es etwa um die Praxis der Postwachstumstheorie von Niko Paech und Bewältigungsansätze jenseits von Verzichtsmustern geht.
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Verdienstvoll an diesem Buch ist die geistige Zurüstung zu Verzicht und Mäßigung.
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