Die Herrschaft der Technik – Georg Simmel
Georg Simmel: Philosophie des Geldes
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Sie lebten nahezu gleichzeitig, gleichwohl kannten sie einander nicht und waren sich ihrer jeweiligen Werke nicht bewusst. Georg Simmel (* 1. März 1858 in Berlin; † 26. September 1918 in Straßburg) und Silvio Gesell (* 17. März 1862 in Sankt Vith, Rheinprovinz; † 11. März 1930 in der Obstbau-Genossenschaft Eden bei Oranienburg). Das ist verwunderlich, da beide auf intensivste Weise mit dem Thema Geld in Berührung kamen. Werner Onken, der profilierteste Gesell-Kenner unserer Zeit, ist sich sicher, dass sie nie in Verbindung traten, weder persönlich noch im Hinblick auf ihre Arbeiten am Thema. Der Soziologe und Philosoph Simmel lieferte mit seinem Hauptwerk „Philosophie des Geldes“ eine bemerkenswert fächerübergreifende Arbeit ab, die durch ihre Kohärenz besticht. Bis heute sind die Deutungen dieses Werkes so vielgestaltig, wie die fachspezifischen Aspekte, die Simmel darin beleuchtet. Im Folgenden drucken wir eine Passage vom Ende des Buches nach, die sich auf eindrückliche Weise mit Technik befasst. Knapp 120 Jahren nachdem Simmel das niederschrieb, in Zeiten der Digitalisierung der Welt, nimmt man verwundert zur Kenntnis, wie aktuell seine Gedanken sind, was nicht zuletzt damit zusammenhängen könnte, welche Wirkungen die Geldordnung erzeugt.
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Text entnommen aus: Duncker & Humblot Verlag, Berlin 1900 (1. Auflage); 6. Kapitel: Der Stil des Lebens – Teil III (S. 534–585)
(genaue Seitenzahl im Original, siehe Zahlen in Klammern.)
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Die Herrschaft der Technik. – Die Rhythmik oder Symmetrie der Lebensinhalte und ihr Gegenteil
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An (> 547) diesem teleologischen Gewebe haben wir also den Widerspruch der Übertönung des Zwecks durch das Mittel zu absoluter Höhe gehoben: indem der wachsenden Bedeutung des Mittels eine gerade in demselben Maß wachsende Perhorreszierung und Verneinung seines Zwecks entspricht.
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Und dieses Gebilde durchdringt das Volksleben mehr und mehr, greift in den weitesten Umkreis personaler, inner-politischer und Produktionsverhältnisse ein, gibt gewissen Altersstufen und gewissen sozialen Kreisen direkt und indirekt ihre Färbung!
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Weniger kraß, aber gefährlicher und schleichender tritt diese Richtung auf das Illusorisch-Werden der Endzwecke vermittels der Fortschritte und der Bewertung der Technik auf.
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Wenn die Leistungen derselben in Wirklichkeit zu demjenigen, worauf es im Leben eigentlich und schließlich ankommt, eben doch höchstens im Verhältnis von Mittel oder Werkzeug, sehr oft aber in gar keinem stehen – so hebe ich von den mancherlei Veranlassungen, diese Rolle der Technik zu verkennen, nur die Großartigkeit hervor, zu der sie sich in sich entwickelt hat.
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Es ist einer der verbreitetsten und fast unvermeidlichen menschlichen Züge, daß die Höhe, Größe und Vollendung, welche ein Gebiet innerhalb seiner Grenzen und unter den ihm eignen Voraussetzungen erlangt hat, mit der Bedeutsamkeit dieses Gebietes als ganzen verwechselt wird; der Reichtum und die Vollkommenheit der einzelnen Teile, das Maß, in dem das Gebiet sich seinem eignen immanenten Ideale nähert, gilt gar zu leicht als Wert und Würde desselben überhaupt und in seinem Verhältnis zu den anderen Lebensinhalten.
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Die Erkenntnis, daß etwas in seinem Genre und gemessen an den Forderungen seines Typus sehr hervorragend sei, während dieses Genre und Typus selbst weniges und niedriges bedeute – diese Erkenntnis setzt in jedem einzelnen Falle ein sehr geschärftes Denken und differenziertes Wertempfinden voraus.
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Wie häufig unterliegen wir der Versuchung, die Bedeutung der eignen Leistung dadurch zu exaggerieren, daß wir der ganzen Provinz, der sie angehört, übertriebene Bedeutung beilegen! – indem wir ihre relative Höhe auf jenes Ganze überfließen lassen und sie dadurch zu einer absoluten steigern.
Wie oft verleitet der Besitz einer hervorragenden Einzelheit irgendeiner Wertart – von den Gegenständen der Sammelmanien anfangend bis zu den spezialistischen Kenntnissen eines wissenschaftlichen Sondergebietes – dazu, eben diese Wertart als ganze im Zusammenhange des Wertkosmos so hoch zu schätzen, wie jene Einzelheit es innerhalb ihrer verdient!
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Es ist, im Grunde genommen, immer der alte metaphysische Fehler: die Bestimmungen, welche die Elemente eines Ganzen untereinander, also relativerweise, aufzeigen, auf das Ganze zu übertragen – der Fehler, aus dem heraus (> 548) z. B. die Forderung ursächlicher Begründung, die für alle Teile der Welt und für deren Verhältnis untereinander gilt, auch dem Ganzen der Welt gegenüber erhoben wird.
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Den Enthusiasten für die moderne Technik würde es wahrscheinlich sehr wunderlich vorkommen, daß ihr inneres Verhalten demselben Formfehler unterliegen soll, wie das der spekulierenden Metaphysiker.
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Und doch ist es so: die relative Höhe, welche die technischen Fortschritte der Gegenwart gegenüber den früheren Zuständen und unter vorausgesetzter Anerkennung gewisser Ziele erreicht haben, wächst ihnen zu einer absoluten Bedeutung dieser Ziele und also jener Fortschritte aus.
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Gewiß haben wir jetzt statt der Tranlampen Azetylen und elektrisches Licht; allein der Enthusiasmus über die Fortschritte der Beleuchtung vergißt manchmal, daß das Wesentliche doch nicht sie, sondern dasjenige ist, was sie besser sichtbar macht; der förmliche Rausch, in den die Triumphe von Telegraphie und Telephonie die Menschen versetzt haben, läßt sie oft übersehen, daß es doch wohl auf den Wert dessen ankommt, was man mitzuteilen hat, und daß dem gegenüber die Schnelligkeit oder Langsamkeit des Beförderungsmittels sehr oft eine Angelegenheit ist, die ihren jetzigen Rang nur durch Usurpation erlangen konnte
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