Das Phänomen Hölderlin – Johannes Heinrichs
– - –
Hölderlin gilt heute als einer der wichtigsten Dichter und Schriftsteller der deutschen Kultur. Sein Schicksal zu Lebzeiten war jedoch das eines als verrückt Erklärten, den seine Zeitgenossen nicht verstanden, und die er nicht mehr verstand. Seine Dichtung war zu hoch und zu inspiriert, um erkannt zu werden. Hölderlin war in das Reich der übersinnlichen Wahrnehmung eingetreten. „Das Göttliche, das mir erschien“ beflügelte seine Schau, schenkte ihm die Einsicht in die „Allheit der Natur“. Ein früher Vertreter der Esoterik, der die persönliche Erfahrung der Transzendenz mit Reflexion und Poesie zu verschmelzen verstand.
– - –
Vor 250 Jahren, am 20. März 1770, wurde Friedrich Hölderlin in Lauffen am Neckar geboren. Im Mai 1807 wurde er als unheilbar wahnsinnig in die Obhut der Schreiner-Familie Zimmer gegeben. In diesem später so genannten „Tübinger Turm“ verbrachte er noch 36 Jahre, bis zu seinem physischen Tod am 7. Juni 1843. Eines seiner bekanntesten Gedichte wird auf die Jahre 1802⁄3 datiert:
– - –
Hälfte des Lebens
– - –
Mit gelben Birnen hänget
– - –
und voll mit wilden Rosen
– - –
Das Land in den See,
– - –
Ihr holden Schwäne,
– - –
Und trunken von Küssen
– - –
Tunkt ihr das Haupt
– - –
Ins heilignüchterne Wasser.
– - –
– - –
Weh mir, wo nehm’ ich, wenn
– - –
Es Winter ist, die Blumen, und wo
– - –
Den Sonnenschein,
– - –
Und Schatten der Erde?
– - –
Die Mauern stehn
– - –
Sprachlos und kalt, im Winde
– - –
Klirren die Fahnen.
– - –
– - –
Der Dichter war im Juni 1802 in einem abenteuerlichen Fußmarsch aus Südfrankreich zurückgekehrt und bezeichnete sich selbst als „von Apollo“, also vom Gott der Schönheit und Liebe, „geschlagen“. Er hatte das Sterben seiner Geliebten „Diotima“, der Frankfurter Bankiersfrau Susette Gontard, die einen gesellschaftlich bedingten Tod aus Gram um ihn gestorben war, offenbar telepathisch geahnt und deshalb nach wenigen Monaten seine Hauslehrerstelle in Bordeaux aufgegeben. Er ahnte damals offenbar auch sein eigenes weiteres Schicksal, seine eigene Art von sozialem und psychischem Tod – wie das Gedicht erkennen lässt.
– - –
Einmaligkeit als Dichter und Denker
– - –
Hölderlin ist tatsächlich in einmaliger Weise, was er zu sein wünschte: Dichter und Denker zugleich. Im Unterschied zu Goethe, der jedermann zum Vergleich unwillkürlich einfällt, stand er nicht in einem gespaltenen Verhältnis zur großen professionellen Philosophie seiner Zeit, dieser von Kant geprägten Kunst der Begriffe, und zu dessen „Schule“ in Jena: zu Reinhold, Fichte und Hegel. Allein Schellings Naturphilosophie war Goethe direkt zugänglich. Hölderlin war dagegen ebenbürtiger Mitdenker und Weiterdenker, auch Anreger jener Philosophen. Im Unterschied zu seinem väterlichen Vorbild und inneren Rivalen Schiller hatte er die Kantische „Revolution der Denkungsart“ von Anfang an, sozusagen mit der geistigen Muttermilch eingesogen, schon in der ersten Studienzeit am Tübinger Stift. Er wurde dort engster Studienfreund der beiden großen deutschen Idealisten (Hegels und Schellings) und später in Jena ein freiwilliger Hörer Fichtes. Er war also in philosophischer ebenso wie in poetischer Sicht einen entscheidenden Generationenschritt weiter als der gewiss philosophisch ebenfalls hochbegabte, doch im Unterschied zu ihm nicht philosophisch-theologisch ausgebildete Schiller. Das alles wird hier nicht angemerkt, um Größenvergleiche anzustellen, sondern lediglich, um zu untermauern, dass in Hölderlin eine Einheit von Dichten und philosophischem Denken angelegt ist, die schwerlich ihresgleichen in Deutschland findet, jedenfalls nicht vor Nietzsche. Nicht umsonst klagt der auch in dieser Einzigartigkeit verkannte Dichter in Form eines ironischen Guten Rates:
– - –
„Hast Du Verstand und ein Herz, so zeige nur eines von beiden, Beides verdammen sie dir, zeigest du beides zugleich.“
– - –
Hinzu kommt eine vermutlich ebenfalls einzigartige Überfülle der unkonventionellen Bilder, welche die Strenge der Gedankenführung zugleich unterstützen und bis zur Unmerklichkeit auflockern, ganz im Unterschied zu einer barocken Art von Üppigkeit und Überfluss: Der Hölderlinsche Überreichtum an Bildern hat seine Wurzeln nicht im Spielerischen, sondern in einem kämpferischen Ringen um den niemals abgeschlossenen Ausdruck eines Unendlichen. Solche Einheit von gedanklicher Strenge und phantasievollen Bildern verlangt dem sprachlich weniger geübten Leser oft zu viel ab.
– - –
Hinzu kommt ferner der sprachmusikalische Beziehungsreichtum. Nur wer Sinnmusik genießen kann, die klangwerdende Genauigkeit der Bilder, die geistigen und sinnlichen Sinn zwanglos vereinigen und dabei in jenem unverkennbaren Grundton als Lautmelodik und Rhythmus zur Einheit verschmelzen, kann das Besondere dieser Dichtung erfassen. Es handelt sich um eine lyrische Qualität, die zwar auch anderswo in kurzen lyrischen Gebilden, in den besten Gedichten, erreicht wird, in der romanhaften Länge des Hyperion jedoch einzigartig in deutscher Sprache dasteht.
– - –
Dass diese Einmaligkeit der Begabung dann doch im Großen und Ganzen zu seinen Lebzeiten unentfaltet blieb, macht Hölderlins menschliche Tragik aus. Sein so genannter Irrsinn oder geistige Umnachtung seit 1805⁄1806 (…) stellt in meinen Augen vor allem die Folge eines Übermaßes an geistig-seelischer Energie dar, die er unter lebensgeschichtlich unaufgelösten Spannungen nicht mehr zu verarbeiten vermochte: Seine nervliche Physis war überfordert von diesem Übermaß an Begabung und Problematik, von der damit verbundenen Hochspannung – bei nicht gelingender sozialer Verarbeitung dieser hochfrequenten Energien.
– - –
„Ich glaube an eine künftige Revolution der Gesinnungen und Vorstellungsarten, die alles Bisherige schamrot machen wird. Und dazu kann Deutschland vielleicht sehr viel beitragen“ (Bd. II der 3‑bändigen Münchener Ausgabe von 1992, S. 643).
– - –
Allerdings müssten die Dinge dazu „von Grund auf anders werden. Aus der Wurzel der Menschheit sprosse die neue Welt“ (Hyperion, Brief 30). Die neue Welt ist nicht durch einseitiges, revolutionäres, gar kriegerisches Handeln zu verwirklichen.
– - –
„Aber aus bloßem Verstand ist nie Verständiges, aus bloßer Vernunft nie Vernünftiges gekommen.
– - –
Verstand ist, ohne Geistesschönheit wie ein dienstbarer Geselle, der den Zaun aus grobem Holze zimmert, wie ihm vorgezeichnet ist, und die gezimmerten Pfähle aneinander nagelt, für den Garten, den der Meister bauen will. Des Verstandes ganzes Geschäft ist Notwerk. Vor dem Unsinn schützt er uns, indem er ordnet; aber sicher zu sein vor Unsinn und vor Unrecht ist doch nicht die höchste Stufe menschlicher Vortrefflichkeit.
– - –
Vernunft ist, ohne Geistes‑, ohne Herzensschönheit wie ein Treiber, den der Herr des Hauses über die Knechte gesetzt hat (…) aus bloßem Verstande kommt keine Philosophie, denn Philosophie ist mehr, denn nur die beschränkte Erkenntnis des Vorhandnen.
– - –
Aus bloßer Vernunft kommt keine Philosophie, denn Philosophie ist mehr, denn blinde Forderung eines nie zu endigenden Fortschritts in Vereinigung und Unterscheidung eines möglichen Stoffs“ (aus Hyperion Brief 30: Athener Dialoge.)
– - – mehr online
Aktuelle Kommentare