Brave new globalized world! – Gero Jenner
Grenzenlos wachsender Reichtum? —Pro: Vor zwei Jahrhunderten wurde die Welt selbst noch in ihren damals fortschrittlichsten Teilen (Europa) von Hungersnöten verheert, obwohl sie nur den siebenten Teil, also einen Bruchteil, der heutigen Bevölkerung ernährte. Heute bietet sie mehr als der Hälfte der Menschheit einen Lebensstandard, wie er in früheren Zeiten nur einer hauchdünnen Élite zugänglich war. Am deutlichsten lässt sich der gewaltige materielle Aufschwung an der Entwicklung Chinas ablesen. Nirgendwo wurde in kürzester Zeit (innerhalb von vier Jahrzehnten) so großer Reichtum geschaffen, nirgendwo sonst schießen die Milliardäre so zahlreich aus dem Boden. Die Bürger wohlhabender Staaten müssen sich nicht länger mit menschlichen Sklaven umgeben, wenn sie im Luxus leben wollen, heute verfügt jeder von ihnen über zehn bis dreißig Maschinensklaven – Autos, Waschmaschinen etc. –, die ihren Dienst ohne Zwang verrichten.
Contra: Wir haben diesen Reichtum mit einem Preis bezahlt, der sich jetzt schon als für den Planeten untragbar erweist, weil er nicht auf der zyklischen Nutzung erneuerbarer, sondern auf einem weltweit gigantischen Verschleiß begrenzter Ressourcen beruht – und deren Erschöpfung ist jetzt schon absehbar (Kupfer, Phosphor, Bau-Sand, Energie etc.). Die permanent gesteigerte Umwandlung von Rohstoffen in Fertigprodukte und Müll führt zudem zu einer dramatischen Vergiftung des Globus. Mit der CO2-Belastung der Luft und der Vermüllung der Meere greift der anthropogene Verschleiß auf den gesamten Planeten über. Der Reichtum, wie wir ihn gegenwärtig erzeugen, ist eine Kriegserklärung an die Natur.
Durch seinen Erfindungsreichtum hat der Mensch bisher noch alle Schwierigkeiten gemeistert —
Pro: Die bisherige Geschichte des Menschen gleicht einer einzigen Aufwärtsspirale. Als die Jäger das Großwild überall auf der Welt ausgemerzt hatten, wurden sie zu Bauern und Hirten; als die Ackerwirtschaft an ihre Grenzen stieß, wurde die Industriegesellschaft erfunden. Jetzt, wo die industrielle Ausbeutung des Planeten an ihr Ende gelangt, wird der Mensch eine neue Epoche beginnen. Die Versorgung mit Fusionsenergie steht kurz vor dem Durchbruch. Kassandratöne stimmen nur die ewig Gestrigen an: Menschen also, denen die Fantasie oder der Wille für die Gestaltung der Zukunft fehlt.
Contra: Alle bisherigen Kulturen mit Ausnahme der nomadischen Beutevölker haben ihrer Umwelt nur abverlangt, was diese ihnen zyklisch an erneuerbaren Produkten geliefert hat. Einige Gesellschaften wie die Bewohner der Osterinseln oder die frühen Kulturen Mesopotamiens haben der Natur allerdings mehr abgefordert, als die natürlichen Lebensgrundlagen erlaubten. Diese Völker sind entweder untergegangen oder ihre Bevölkerungen wurden im jeweiligen Lebensraum stark dezimiert. Es blieb den modernen Industriegesellschaften vorbehalten, zum ersten Mal in der Geschichte mit dem Prinzip der Nachhaltigkeit grundsätzlich zu brechen. Ihr Überleben verdankt die jetzige Bevölkerung von sieben Milliarden Menschen dem verschwenderischen Verbrauch nicht-erneuerbarer Ressourcen. Eine Versorgung durch nahezu kostenlose Energie mit Hilfe von Kernfusion würde kurzfristig zwar Entspannung bedeuten, langfristig aber zu einer dramatischen Zuspitzung der Krise führen, weil die Transformation knapper Rohstoffe dann in umso größerem Maßstab und umso schneller erfolgen könnte.
Ein wirklicher Ausweg aus dieser brandgefährlichen Situation ist nur auf dreierlei Weise möglich: erstens, durch eine radikale Reduktion der Bevölkerung bei gleichem Ressourcenverschleiß (Krieg); zweitens, durch eine radikale Verminderung des Konsums bei gleicher Bevölkerung (freiwillige oder unfreiwillige Armut); oder, drittens, durch eine grundsätzliche Umstellung der Wirtschaft auf Wiederverwertung und erneuerbare Energien (wie sie bisher nicht einmal den reichsten Staaten gelingt). Gegenwärtig wird China als Motor des Wachstums für die Weltwirtschaft gepriesen – wie jeder weiß, ist dies ein Wachstum des ungebremsten Ressourcenverbrauchs und der forcierten Naturvernichtung.
Haben wir das ideale
Wirtschaftssystem erfunden?
Pro: Es gibt kein besseres Wirtschaftssystem als die moderne Marktwirtschaft, weil sie dem Einzelnen die Freiheit gewährt, nicht nur als Konsument, sondern ebenso auch als selbstentscheidender Produzent in Erscheinung zu treten. Das war weder in den Zeiten des Feudalismus bis ins achtzehnte Jahrhundert noch bei dessen verkappten Nachfolgern möglich, den Staaten des real existierenden Sozialismus (Ausnahme: das pseudosozialistische China). Solange der Staat die Wirtschaft und das wirtschaftliche Treiben jedes Einzelnen von oben dirigierte, war das Potential an verfügbarer Initiative, Intelligenz und Energie auf eine ganz kleine Schicht begrenzt. Abgesehen von der Staatsspitze selbst und der ihr unterstehenden Verwaltung, waren die meisten Menschen bloße Befehlsempfänger – eine auf Eigeninitiative gegründete dynamische Entwicklung war unter solchen Bedingungen undenkbar. Erst nach den beiden Revolutionen des 18. Jahrhunderts, der amerikanischen und der französischen, zog sich der Staat allmählich aus der Wirtschaft zurück und überließ es jedem Einzelnen, als aktiver Mitgestalter in Erscheinung zu treten. Die Folge war eine nie dagewesene Explosion menschlichen Wissens und Könnens: wirtschaftliche Freiheit, ohne die es die politische, wie sich in der Demokratie manifestiert, niemals gegeben hätte.
Contra: Es ist wahr, dass die Mitwirkung aller Bürger an der wirtschaftlichen und politischen Gestaltung ein Ideal darstellt, demgegenüber die von oben verordnete Unfreiheit feudaler und realsozialistischer Systeme als ein die Mehrheit entmündigendes und ihre Fähigkeiten stark beengendes Übel erscheint. An die Stelle der Bevormundung von oben tritt in der Marktwirtschaft allerdings Wettbewerb, den der Feudalismus bis dahin ebenso unterdrückte, wie er den kommunistischen Systemen suspekt war. Dadurch entsteht eine ganz andere Gefahr: Die auf dem allgemeinen Wettbewerb begründete Marktwirtschaft – auch die sogenannte soziale mit ihrem Bemühen um Umverteilung – ist ein inhärent instabiles System, weil wir als Konsumenten durch unsere Produktauswahl dafür sorgen, dass es unter den Anbietern von Wissen und Können notwendig Verlierer und Sieger gibt. Ohne das Eingreifen einer übergeordneten Instanz, also des Staats, werden die Sieger zunehmend stärker, die Verlierer mit der Zeit immer schwächer. Ohne einen die Gleichheit der Chancen aufrechterhaltenden Staat geht ein ursprünglich aus materiell weitgehend gleich gestellten Bürgern bestehendes Gemeinwesen (wie das chinesische vor einem halben Jahrhundert) nach kurzer Zeit zwangsläufig in einen Klassenstaat über, in dem die Gegensätze zwischen Arm und Reich immer greller in Erscheinung treten. Eine ursprünglich egalitäre oder zumindest diesem Ideal verpflichtete Marktwirtschaft nähert sich auf diese Art wieder den Verhältnissen an, die sie einst überwinden wollte, d. h. dem Feudalismus. In diesem Stadium der wirtschaftlichen wie politischen Refeudalisierung befinden sich heute alle westlichen Staaten, die einen mehr, die anderen weniger. Es ist ihnen nicht gelungen, die private Initiative zu maximieren, ohne dabei den Staat in seiner wichtigsten Funktion zu schwächen: der Verhinderung einer neuen Privilegiengesellschaft.
Kommentar Gero Jenner: Dabei zielte die Theorie einer auf individuelles Verdienst begründeten Marktwirtschaft ursprünglich auf eine ganz andere Entwicklung. Während die klassenlose Gesellschaft nach Marx in der Praxis nur um einen exorbitant hohen Preis zu haben war, nämlich die gewaltsame Unterdrückung des Wettbewerbs, in dem sich die natürlichen Unterschiede der Intelligenz und persönlichen Initiative manifestieren (das schrecklichste Beispiel für diese systematische Unterdrückung lieferte der von Mao geschaffene Einheitsstaat aus blauen Ameisenmännchen), hatten die Idealisten des 18. Jahrhunderts eine klassenlose Gesellschaft ganz anderer Art im Auge. Sobald alle Vorrechte, die eine Gesellschaft den Individuen einräumt, einzig auf Wissen und Können, aber nie auf Privilegien gründen, genießt jede neue Generation exakt gleiche Rechte und Chancen, da Wissen und Können ja stets in anderen Köpfen geboren werden. Zeitweise bestehende individuelle Unterschiede können sich ohne erbliche Privilegien niemals zu Generationen überdauernden Klassen verhärten.
Aktuelle Kommentare