Für eine Diskussionskultur im Geiste integraler Wahrheitsfindung.
Meine vorangestellten Ausführungen
über den Umgang mit Bösem und Gutem
in unserer politischen Kultur („Vom
spaltenden Geist zu integraler Politik“,
HUMANE WIRTSCHAFT 01/2014) endeten
mit einer Beschreibung der positiven
Erfahrung, die ich mit der Dialog-
Methode nach David Bohm in einer
Gesprächsgruppe zum Thema „Integrale
Politik“ gemacht habe. Hier wurde
modellhaft jene „integrale Wahrheitsfindung“
praktiziert, die ich für
geeignet halte, den spaltenden Geist,
welcher unsere politische Kultur heute
beherrscht, zu überwinden und ein
humanes, friedvolles, nachhaltig wirtschaftendes
Gemeinwesen zu entwickeln
und zu gestalten.
Integrale Wahrheitsfindung
Wieso müssen wir uns über Wahrheitsfindung
überhaupt Gedanken machen?
„Wenn ich wissen will, ob es draußen
regnet, gehe ich ans Fenster und schaue
nach“, sagt Ken Wilber, und wenn du
mich nach dem Weg zum Bahnhof fragst
und ich ihn kenne und dir zeige, wissen
wir hinterher beide, was vorher nur ich
wusste. Wo also liegt das Problem? Nun
– überall dort, wo ein Bereich der Wirklichkeit
komplexer wird und nicht mehr
durch einen einfachen Erkenntnisakt zu
erfassen ist wie das gegenwärtige Wetter
oder der Weg zum Bahnhof, wird es
natürlich etwas schwieriger. Und dies
ist mit vielen Wirklichkeitsbereichen,
mit denen wir uns als menschliche Gemeinschaften
befassen, eben der Fall –
von der Gestaltung eines Gartens über
die Leitung eines Unternehmens bis hin
zum Design des weltweiten Geldsystems
oder gar einer gezielten Beeinflussung
des Erdklimas.
In einem solchen Fall kann jede® der
Beteiligten in der Regel nur einen Teil
der Wirklichkeit, die gerade zu untersuchen
oder zu gestalten ist, erkennen
und verstehen – was ebenfalls
so lange unproblematisch ist, wie ich
als Betroffene® mir dessen bewusst
bin, wo die Grenzen meines Wissens
liegen. Genau hier aber setzen die
Schwierigkeiten ein, mit denen wir im
gesellschaftlichen Leben oft zu tun bekommen,
sei es im Alltag, in der Wissenschaft
oder in der Politik. Problematisch
wird es nämlich dann, wenn
die Menschen, die an einem gemeinsamen
Prozess der Wahrheits- und
Entscheidungsfindung beteiligt sind,
ihr jeweiliges persönliches Teilwissen
(ihre „Halbwahrheit“) fälschlich mit
der gesamten Wahrheit gleichsetzen.
Daraus entsteht ein Habitus, den ich
als „Hochmut der Halbwahrheit“ bezeichnen
möchte. Dieser kann auf unterschiedliche
Weise gelebt werden,
sei es ganz offen als missionarische
Haltung, welche die anderen überzeugen
und „bekehren“ will oder eher indirekt
als jene in der Politik „demokratischer“
Gesellschaften heute gängige
Haltung, welche versucht, durch Manipulations-
und Machtmittel verschiedener
Art Mehrheiten (oder einflussreiche
Minderheiten) hinter der eigenen
Position zu versammeln.
Denn es ist nicht allein die Komplexität
der Tatsachen, die eine Wahrheitsfindung
erschwert. Wir Menschen
haben seit vielen Jahrtausenden billigend
unterstützt oder aktiv daran mit
gearbeitet, dass unsere geistig-seelische
Schöpferkraft an priesterliche
Hierarchien oder technische Systeme
delegiert und infolgedessen weitgehend
degeneriert wurde. Dies begann
mit der Einführung der Schrift
in den alten Hochkulturen, die gemäß
der Warnung damaliger Weiser
tatsächlich kollektiv unser Gedächtnis
schwächte und endet wahrscheinlich
noch nicht bei den heutigen Navigationssystemen,
die beginnen,
unsere Fähigkeit zu räumlicher Orientierung
verkümmern zu lassen. Eine
herausragende Rolle spielt dabei
das Verkümmern unseres Wahrheitssinnes
durch einen weitgehenden Verlust
unserer „Seelenverankerung“,
unserer inneren Verbindung mit jenem
transzendenten Seinsgrund, dem wir
entstammen, und damit eine Schwächung
unserer ureigensten Gewissensbindung
oder moralischen Urteilskraft
– und deren Abtretung an äußere Hierarchien,
zunächst an die Priester
der verschiedenen Religionen, heute
zunehmend an die Experten der materialistischen
Wissenschaft und die Produzenten der modernen Massenmedien,
wobei ich diese beiden Systeme
zusammengefasst als „Wahrheitsindustrie“
bezeichnen möchte.
Wer heute die Welt, in der wir leben,
möglichst ganzheitlich verstehen will,
muss zwei Schleier durchstoßen: zum
einen den psychologischen Schleier
aus Versuchungen zu Scham, Schuldgefühlen,
ohnmächtiger Resignation,
panischer Angst, privatisierender Gier,
heiligem Zorn oder selbstgerechter,
das Böse auf Gegner projizierender
Fehlersuche, der sich oft vor eine ungeschminkte
Erkenntnis der Tatsachen
schiebt – zum anderen den Schleier der
veröffentlichten Meinung, den die oben
genannte Wahrheitsindustrie über uns
ausbreitet. Und groß ist die Versuchung,
alternative Wahrheitssuche so
zu betreiben, dass das Modell „hier
Expertentum – dort gläubige Gefolgschaft“
einfach kopiert und mit anderen,
scheinbar besseren oder richtigeren
Inhalten versehen wird – und dann
versucht wird mit den großen Systemen
in Konkurrenz zu gehen (was in der Regel
in Einverleibung oder Vernichtung
der alternativen Herausforderung endet),
anstatt diese Dynamik grundsätzlich
zu transzendieren.
Dies nämlich erfordert einen Weg, den
ich „Demut der Halbwahrheit“ nennen
würde. Hier eben betreten wir den Bereich
dessen, was ich[1] als „integrale
Wahrheitsfindung“ bezeichnen möchte.
Denn hier wählen wir als Beteiligte
eine Grundhaltung, die besagt: Da ich
davon ausgehen kann, dass ich allein
die komplexe Wirklichkeit nicht überblicke
(auch wenn es noch so sehr den
Anschein haben mag), da es aber für
eine gute Entscheidung des Gemeinwesens
wichtig ist, dass wir der jeweils
zutreffenden Wahrheit so nah wie möglich
kommen, bin ich als Teil dieses Gemeinwesens
essenziell darauf angewiesen,
dass auch alle anderen Beteiligten
ihre Teilwahrheit, ihren Zugang zum
Ganzen, ebenfalls in den „Pool“ hinein
geben. Das bedeutet praktisch: Wer
eine profilierte Position bezieht, die mir
befremdlich erscheint, löst nicht mehr
– wie bisher üblich – den Reflex aus,
ihn in die richtige Schublade einzuordnen
und mir damit gegebenenfalls vom
Leib zu halten, sondern wird innerlich
1 in Anlehnung an die integrale Philosophie nach Jean
Gebser, Ken Wilber und anderen
willkommen geheißen als eine Person,
die – über die Stimme ihres Gewissens,
welche jede(n) Einzelne(n) an das universelle
Bewusstsein zurück bindet
– die Wahrheitsfindung der Gemeinschaft
vervollständigt.
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