Aus der Schein­welt in die Sein­welt – Editorial

Physi­ker glau­ben zu wissen, es gäbe kein Perpe­tu­um Mobile. Jenes „hypo­the­ti­sche Gerät, das – einmal in Gang gesetzt – ohne weite­re Ener­gie­zu­fuhr ewig in Bewe­gung bleibt und dabei – je nach zugrun­de­ge­leg­ter Defi­ni­ti­on – mögli­cher­wei­se auch noch Arbeit verrich­tet.“ Das „unmög­li­che Bild“ auf unse­rer Titel­sei­te, die „Penro­se-Treppe“, inspi­rier­te den nieder­län­di­schen Künst­ler M. C. Escher unter ande­rem zu dem Werk „Wasser­fall“. Darin läuft Wasser in einem geschlos­se­nen Vier­eck schein­bar perp­etu­ier­lich bergab und treibt ein Wasser­rad an. Ein Trug­bild, das durch die Fest­le­gung einer milli­me­ter­ge­nau bestimm­ten Beob­ach­ter­po­si­ti­on ermög­licht wird.
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Damit korre­spon­die­rend prägt die Illu­si­on eines perma­nen­ten berg­auf die Wirt­schaft. Bei Stockun­gen heißt das Allheil­mit­tel „Wachs­tum“. Nega­ti­ve Begleit­erschei­nun­gen, wie etwa Umwelt­zer­stö­rung, führen zu kosme­ti­schen Verän­de­run­gen, dem „grünem Wachs­tum“. Einem, das angeb­lich vorstell­bar sei, ohne ökolo­gi­sche Schä­den zu hinter­las­sen. Die Wachs­tum­se­li­te wieder­holt ihre Paro­len und deter­mi­niert die äuße­ren Umstän­de der Wirt­schaft. Man kann sich dem nur schwer entzie­hen. Die Aussa­ge­re­gime und Macht­or­ga­ni­sa­tio­nen sind nicht in einem Appa­rat zu loka­li­sie­ren, auch wenn Einzel­in­ter­es­sen klar erkenn­bar sind. Forma­li­sie­run­gen, wie beispiels­wei­se die von Vielen als bedroh­lich wahr­ge­nom­me­nen „Frei­han­dels­ab­kom­men“ TTIP und CETA, entste­hen aus der Mitte der Demo­kra­tie heraus. Die despo­ti­sche Instanz dahin­ter ist nicht greif­bar. Sie hat System. Oder besser: Sie steckt im System. Das dadurch erzeug­te Milieu wirkt unwei­ger­lich auf den gesam­ten Wirt­schafts­or­ga­nis­mus. Falls es gelän­ge, TTIP und CETA zu verhin­dern – was zwei­fel­los wünschens­wer­te wäre – bliebe der Einfluss­be­reich einer auf Rendi­te um jeden Preis ausge­rich­te­ten Wirt­schaft erhal­ten. Die damit verbun­den äuße­ren Umstän­de diri­gie­ren alle inne­ren und lassen uns immer weiter aufwärts den Wachs­tums­pfad bege­hen. Selbst­ver­meh­rungs­pro­zes­se im Kapi­tal­be­reich erzeu­gen stati­sche Resul­ta­te, weil es in erster Linie um Mathe­ma­tik geht. Abstrak­te Ergeb­nis­se auf dem Papier oder virtu­ell lassen uns eine Schwein­welt real erschei­nen, in der es einen verzins­ten Anspruch auf Gegen­leis­tung in unbe­stimm­ter Zukunft gäbe. Das hat Auswir­kun­gen auf die leben­di­ge Welt. Es verbrei­tet ein Milieu des stän­di­gen Stre­bens nach mate­ri­el­lem Wachs­tum. Die Stufen auf dem Wachs­tums­pfad dienen nicht mehr einer zuneh­men­den Vervoll­komm­nung, sondern tendie­ren zu Verein­fa­chung. Auf dem Pfad nach oben wird wegge­drückt, was das stei­gen­de Tempo der Vermeh­rung behin­dert und hinzu­ge­fügt, was ihm dient. Die Besei­ti­gung der zwangs­läu­fig entste­hen­den Schä­den, wie die der Umwelt oder der Gesund­heit, schla­gen in der Leis­tungs­bi­lanz posi­tiv zu Buche. Alles, was die Leben­dig­keit von Orga­nis­men ausmacht, bleibt auf der Stre­cke. Übrig bleibt Geschwindigkeit.
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Wie kommen wir da raus? Ohne Perspek­tiv­wech­sel wohl nie. Der muss am Anfang stehen. Erst dann können Maßnah­men folgen. Beispiels­wei­se solche, die den Geld­kör­per betref­fen. Dessen zwei­fel­los marode Verfas­sung zieht viele andere Körper in Mitlei­den­schaft. Die noch immer meist miss­ver­stan­de­ne Umlauf­si­che­rung des Geldes böte beste Voraus­set­zun­gen für eine Entschleu­ni­gung der wirt­schaft­li­chen Vorgän­ge. Das stete Verge­hen und neu erschaf­fen des Trans­ak­ti­ons­hilfs­mit­tels Geld würde den zerstö­re­ri­schen Selbst­ver­meh­rungs­pro­zes­sen ein Ende berei­ten und den Fokus der Wirt­schafts­teil­neh­mer verän­dern. Statt dahin­zu­ra­sen könn­ten wir ohne Wachs­tums­druck die sicht­ba­re (Arbeits)Welt anders wahr­neh­men. Geld erfüh­re einen Wandel zum reinen Mittel des Handelns in der Wirt­schaft und verlö­re seinen Status als Zweck. Erst in einer vom Geld­zweck befrei­ten Wirt­schafts­welt kann es zu so etwas, wie einer Voll­be­schäf­ti­gung kommen. Unwei­ger­lich fände eine Aufwer­tung der heute außer­halb der Arbeits­welt ange­sie­del­ten Berei­che, wie Fami­li­en­ar­beit, Bildung und Erzie­hung, Ehren­amt, Kunst und Kultur statt. Beschä­mend unter­be­zahl­te Erwerbs­ar­beit auf Gebie­ten, die gesell­schaft­lich uner­läss­lich sind würde grund­le­gend aufge­wer­tet. Möge man mir in diesen Punk­ten wider­spre­chen, doch komme mir niemand mit einem „Weiter wie bisher“!
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Wir stehen vor einer histo­ri­schen Trans­for­ma­ti­on. Das ist spür­bar. Es bedeu­tet Perspek­tiv­wech­sel und Über­gang in etwas Neues, in weiten Teilen noch Unvorhersehbares.
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Entde­cken Sie die Ansät­ze auf den folgen­den Seiten und lassen sich inspi­rie­ren oder Wider­spruch in Ihnen aufkom­men. Und wenn Sie Lust dazu haben: Lassen Sie mir Ihre Gedan­ken zukommen.
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Herz­lich grüßt Ihr Andre­as Bangemann. 

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