Aus dem Gleichgewicht – DESEQUILIBRADOS
Interview mit Juan Baldana und Andreas Bangemann
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2021 wird mit DESEQUILIBRADOS ein Film in die Programmkinos kommen, in dem die Geschichte Silvio Gesells auf besondere Weise eine Rolle spielt.
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Regisseur des Films ist der in Buenos Aires lebende Argentinier Juan Baldana. Andreas Bangemann interviewte ihn Anfang Mai 2021.
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Das Interview wird auf der Webseite der HUMANEN WIRTSCHAFT auch auf Spanisch und Englisch veröffentlicht.
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AB: Wie ist die Idee für den Film entstanden?
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JB: Einen Monat nachdem die argentinische Regierung wegen der Pandemie den Lockdown verkündete, wussten wir noch nicht, wie lange es dauern würde. Aber uns war klar, dass die Filmindustrie für das gesamte Jahr 2020 stillstehen würde und meine Filmprojekte nicht weitergeführt werden könnten. Da kam mir der Gedanke, ein Drehbuch zu schreiben und einen Gemeinschaftsfilm zu machen, wohl wissend, dass der Dreh selbst erst im darauffolgenden Jahr sicher möglich sein würde. Ich schlug befreundeten Profis aus dem Filmbereich vor, mit mir auf diese donquijotische Reise zu kommen.
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Ausgangspunkt war die Idee, den Film inmitten der Pandemie stattfinden zu lassen. Er sollte die harte Realität reflektieren, die uns immer noch bedrängt. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich mir noch nicht vorstellen, dass wir heute, ein Jahr später, schlechter dastehen als damals. Aber ich verstand das ernste wirtschaftliche Problem, das sich in der ganzen Welt zuspitzen und die Kluft zwischen Arm und Reich vergrößern würde. Das Thema Tauschhandel tauchte auch auf. Ich hatte es schon vor Jahren in einem meiner vergessenen Drehbücher aufgegriffen.
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Ich rief Julio Archet an, einen anarchistischen Freund, der heute in einem Wohnmobil lebt und einer der Initiatoren der größten Tauschhandelsbewegung in Argentinien war. In der Krise 2001 wäre der Tauschhandel beinahe in ein Gesetz gefasst worden. Das Vorhaben wurde dann mit einem Federstrich gekippt, weil es mit der nationalen Währung konkurrierte. Ich schlug Julio vor, gemeinsam eine fiktive Geschichte zu schreiben. Als wir begannen, tauchte plötzlich der Name von Silvio Gesell auf. Ich hatte keine Ahnung, wer er war. In unserem Land gibt es einen wichtigen touristischen Ort namens „Villa Gesell“ und niemand weiß, warum er so heißt. Die Leute baden und sonnen sich dort einfach, ohne sich über die Geschichte des Ortes Gedanken zu machen.
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Als ich mich mit diesem großen Denker und vergessenen Ökonomen befasste, kam mir in den Sinn, dass er in unsere Handlung passen könnte. Es begann eine unermüdliche Arbeit, denn mein Ziel war es, den Film im November zu drehen. Ich wollte etwas tun, was ich zuvor noch nie in meinem Leben getan hatte. Normalerweise brauche ich für meine Filme zwischen drei und fünf Jahren von der Konzeption an gerechnet. Es war an der Zeit, es einmal anders anzugehen.
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AB: Kannst Du unseren Lesern einen kleinen Einblick verschaffen, wie Du diesen Themenkreis aus akutem Pandemiegeschehen, privaten Problemen der Figur des Films und der visionären Idee eines längst verstorbenen Theoretikers in einem Film miteinander verwoben hast?
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JB: Die drei Themen, die den Film umspannen, sind die Pandemie, eine problematische Liebesgeschichte und die Besessenheit des Wirtschaftsjuristen Rodo, der sich in den Kopf gesetzt hat, die gesellianische Idee mehr denn je voranzutreiben, nachdem er zuvor eine nie dagewesene wirtschaftliche Katastrophe miterlebt hat. Es schien mir interessant, die Probleme, die uns das Coronavirus gebracht hat, nicht nur auf sozialer, sondern auch auf wirtschaftlicher Ebene zu verbinden. Verknüpft mit seinen mehr als 100 Jahre alten Ideen, lässt der Film Silvio Gesell als einen wahren Visionär von heute erscheinen.
James Camerons Film Titanic kam mir in den Sinn. Ich habe immer seine großartige Strategie vor Augen, wie er ein historisches Ereignis nutzte, um einen Liebesfilm zu erzählen. Es gibt viele Momente im Film, welche die Zuschauer vergessen lassen, dass dieses gewaltige Schiff in eisigen Gewässern untergehen wird, nur weil die Probleme des Hauptdarstellerpaares einen gefangen halten. Bei unserem Film ist die Intention in gewisser Weise ähnlich. Es gibt Momente, in denen der Wahnsinn der Pandemie zu einem Kontext innerhalb anderer starker Themen wird. Als der Film gedreht wurde, war zum Beispiel das Abtreibungsgesetz in Argentinien noch nicht verabschiedet, was einer der Konflikte in der Handlung ist.
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AB: Da Du „Titanic“ erwähnst: Da gibt es diese verstörende Szene, in der die Musikkapelle weiter fröhliche Lieder spielt. Die Musiker selbst, die Passagiere und die Crewmitglieder des Schiffes, alle gehen unterschiedlich mit der Lage um. Vergleichbares war auch in Bezug auf den Umgang mit dem Coronavirus zu beobachten. Es gibt die Leute, die alles als Übertreibung von etwas ganz Harmlosen ansehen. Aber auch jene, die es ernst nehmen und bereits Leute sahen, die jämmerlich sterben mussten.
Sind wir zu einer Gesellschaft geworden, die nicht einmal mehr in Katastrophen zusammenstehen kann?
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JB: Die Szene, in der die Musiker in ihren letzten Lebensminuten spielen, ist wunderschön. Die Bandmitglieder stellen das absolute Gegenmodell zu den Menschen dar, die um einen Platz auf dem Boot kämpfen, wohl wissend, dass sie vielleicht Kinder oder alte Menschen dem Tod überlassen. Diese sind ausschließlich daran interessiert, sich selbst zu retten. In den kritischen Momenten des Lebens stellen wir uns selbst auf die Probe und definieren, wer wir wirklich sind. Wie erträgst Du es für den Rest Deines Lebens, wenn Du in Grenzsituationen das Falsche getan hast?
Diese Pandemie bringt das Beste und das Schlimmste in den Menschen zum Vorschein. Und das in einer Zeit, in der weltpolitisch die Polarisierung und Rechtslastigkeit zur Normalität wurden. Was nicht den neoliberalen Interessen entspricht, dem wird Nähe zu kommunistischem Gedankengut unterstellt, was unvermeidlich die globale Kluft immer weiter vertieft. Die Medien befördern dies noch. In Argentinien befinden wir uns in der zweiten Welle. Sie bricht alle Rekorde an Infizierten und Todesfällen. Im Zusammenhang mit diesen Coronavirus-Höchstwerten wurden einige Beschränkungen eingeführt, um den Kollaps bei den Betten der Intensivstationen zu vermeiden.
In Kreisen der Gegenbewegung gibt es jedoch immer noch lächerliche Aufmärsche und beleidigende Meme, die so weit führen, dass sich Familien entzweien, die unter demselben Dach leben. Müssen tatsächlich erst die eigene Mutter, der Vater, Bruder oder Schwester sterben, damit man das Ausmaß seiner Ignoranz und Selbstüberhöhung reduziert? Es scheint so.
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