„Stuttgart 21” – Karl-Dieter Bodack
Wie kann sich eine Gesellschaft in eigentlich ganz rationalen Fragestellungen derart spalten: Leistet der neue Bahnhof 34 oder 52 Züge in der Spitzenstunde, mehr oder weniger als der derzeitige? Können die Züge im Gefälle des neuen Bahnhofs sicher gebremst werden oder nicht? Können die 62 km Tunnelstrecken unter der Stadt zuverlässig ohne Gebäudeschäden und ohne Risiken für die Mineralwasserquellen gebaut werden oder nicht:
Alle diese Problemfelder werden von Bürgern, Politikern und Experten kontrovers beurteilt — nicht nur das: Der Riss quer durch alle Gruppen ist inzwischen so tief, dass eine rationale Klärung der strittigen Probleme unmöglich erscheint. Die regierenden Politiker, die Deutsche Bahn AG und die von ihr beauftragten Planer und Unternehmen sprechen und korrespondieren de facto überhaupt nicht mehr mit denjenigen, die sie als „Gegner“ outen: Hunderttausende Bürger, deren Steuergelder man verbraucht, sehen sich missachtet, obwohl sie ganz rationale, weitgehend technisch-naturwissenschaftliche Probleme in den sozialen Kontext stellen!
Dabei wird der weltanschauliche Grundkonflikt, der sich hinter und unter „Stuttgart 21“ orten lässt, gar nicht einmal artikuliert: Da stehen sich diejenigen, die das Bahnreisen als Notfall für den Ausnahmezustand „kein Pkw verfügbar“ sehen, denjenigen gegenüber, denen das Bahnreisen Lebenskultur darstellt. Denn: Pkw-Affine sehen Züge am liebsten als U‑Bahn in Betonröhren, die anderen wollen Stadt-Land-Fluss aus den Bahnfenstern erleben und auf die schönen Panorama-Ein- und ‑Ausfahrten Stuttgarts nicht verzichten. Diese kontroversen Lebenshaltungen blieben bislang weitgehend verborgen! Wie lässt sich dieses soziale Geschehen verstehen? Ist es vielleicht sogar symptomatisch für politisch-sozial-wirtschaftliche Entwicklungen in unserem Lande? Um dies zu verstehen, müssen die Größenordnungen des Bauvorhabens „Stuttgart 21“ gesehen werden:
Kostenexplosion
versus Nutzenimplosion
Das Projekt wurde schon vor vielen Jahren von Bahnexperten und vom Bundesrechnungshof auf Gesamtkosten von mindestens sechs, wahrscheinlich sieben und möglicherweise acht Milliarden Euro taxiert. Nun kommt auch der Bahnvorstand nach ursprünglich zwei, dann vier, nun auf sechs und nahe sieben Milliarden Euro Baukosten: 7.000 Millionen Euro für einen Bahnhof! Eine Schule kostet zehn Millionen – dieser Bahnhof kostet so viel wie 700 Schulen, so viel wie 1.000 durchschnittliche Rathäuser, so viel wie zehntausend Wohnhäuser!
Was bewegt Parteien und Politiker, Vorstände und Aufsichtsräte dazu, einen solchen, wahrhaft gigantischen Betrag für einen Bahnhof auszugeben? Er könnte doch auch dafür verwendet werden, um an 1.000 Orten marode Bahnhöfe zu durchschnittlich sieben Millionen Euro neu zu bauen – Deutschland hätte damit statt heute vielfach ruinenartiger „Empfangsgebäude“ wohl die schönste Bahn der Welt! Mehr noch, überall gibt es im Bahnnetz Engpässe, marode Brücken und Tunnel, Lücken in der Elektrifizierung: Mit den Stuttgarter Milliarden wären deutschlandweit alle Schwachstellen behoben — wir hätten endlich das Schienennetz, dass mehr Verkehr leisten, das Straßennetz entlasten und den CO2-Ausstoß vermindern könnte!
Analysiert man die Pläne, so erkennt man, dass die geplanten Bahnanlagen:
weniger Züge zulassen als die vorhandenen: Gemäß DB-Vorgaben sind 32 Züge/Stunde geplant, derzeit könnten 56 geleistet werden (Vieregg-Rößler, 2011);
manche Zuganschlüsse wegen halbierter Gleiszahl nicht mehr zulassen, Fahrgäste müssen längere Wartezeiten in Kauf nehmen;
wegen ihrer Tieflage, bei Bahnsteigen Treppen und Aufzüge erfordern, während im vorhandenen Bahnhof ebenerdige Zugänge zu allen Zügen vorhanden sind;
statt der heute horizontalen Bahnsteige in Zukunft Gleise und Bahnsteige mit Gefälle haben und damit Gefährdungspotenziale für Bahnbetrieb und Reisende schaffen;
im Brand- und Katastrophenschutz wegen beengter Zugänge und daher sehr langer „Räumungszeiten“ bislang unlösbare Probleme aufweisen;
Zugoperationen, z. B. An-/Abkoppeln von Triebfahrzeugen oder Wagen ausschließen;
nur einen durchschnittlichen Fahrzeitgewinn von 30 Sekunden je Fahrt für den Fahrgast schaffen.
Demgegenüber könnten bescheidene Ausbauten vorhandener Infrastruktur vergleichbare Nutzeffekte vor allem für den Bahnverkehr und dessen Fahrgäste schaffen.
Wie steht die Deutsche Bahn AG zu diesem Projekt? Sie hat es nicht erfunden, jedoch vor zwei Jahrzehnten zunächst propagiert. Als die Größenordnung, die Risiken und Konsequenzen erkannt wurden, stieg sie aus… und wurde von den Politikern der Stadt und des Landes so unter Druck gesetzt, dass sie sich fügte und weiter plante. Als die gigantische Kostendimension nicht mehr zu leugnen war, wollte die DB AG erneut aussteigen — droht doch den Verantwortlichen wegen der Unwirtschaftlichkeit des Projekts der Vorwurf der Veruntreuung mit dem Risiko von Gefängnisstrafen. Da griff die Bundeskanzlerin in die Entscheiderhebel des Bahnvorstands und des Aufsichtsrats und verordnete den Weiterbau… weil sonst Deutschland seine „Zukunftsfähigkeit“ verlöre — eine wahrhaft apokalyptische Vision in Anbetracht eines Bahnhofs in Stuttgart, der den Bahnverkehr tatsächlich erschweren wird!
Metropolenzentrum
oder Bauruinenkonglomerat?
Die Befürworter ignorieren die Bahnprobleme mit dem Argument Gewinn von Flächen für Gewerbe, Büros und Wohnungen. Diese Flächen stehen jedoch weitgehend schon jetzt zur Verfügung: Die Gleisanlagen lassen sich überbauen, so wie in Berlin, Basel, London, Paris oder New-York, der Abstellbahnhof und das Instandhaltungswerk könnten ohne Weiteres verlagert werden – für einige 100 Millionen Euro – schon jetzt!
Dabei steht in Frage, ob „Stuttgart 21“ je fertiggestellt werden kann: Die Anlagen können erst in Betrieb genommen werden, wenn alle Teile fertiggestellt und genehmigt sind, wenn der letzte Meter der mehr als 61.000 Tunnelmeter unter der Stadt befahren werden kann. Maßgebliche Experten halten das für unmöglich: Stuttgarts weltweit renommiertester Bauingenieur, Professor Frei Otto, hat sich aus dem Projekt verabschiedet, weil er es für unverantwortlich hält! Die DB AG hat schon in den Vorarbeiten massive Inkompetenzen gezeigt: Teile des Bahnhofdachs drohten einzustürzen, Gleise wurden so verlegt, dass Züge mehrfach entgleisten: Da fragen sich zu Recht besorgte Bürger, wie sollen die komplexen Tiefbauten im Grundwasser, unter Gebäuden, unter dem Neckar und unter Fertigungsstraßen von Daimler-Benz je gemeistert werden? Für den unter Überdruck zu bauenden Düker für den Nesenbach erhielt die DB AG kein vergabefähiges Angebot — der Bau musste neu geplant werden: Zeitverzug über 2 Jahre!
Alle Entscheider könnten, ja müssten, aus vielfachen Quellen wissen, „…dass Stuttgart 21 in einem Desaster enden wird“ (DIE ZEIT am 28. 2. 2013). Die Katastrophe ist absehbar: Abgebrochene Baustellen, Wassereinbrüche stoppen die Bauarbeiten, unbrauchbare Tunnel unterminieren die Stadt und erfordern Instandhaltung ohne Nutzen. Dazu kommen die Risiken, das Projekt im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen überhaupt zu realisieren: Wichtige Projektbereiche sind noch immer nicht genehmigt, der Brand- und Katastrophenschutz „sei nicht funktions- und genehmigungsfähig“ (so die von der DB beauftragte Gruner AG in Basel).
Als absolute Absurdität sehen Bahnexperten, dass schlussendlich der Kopfbahnhof weiter betrieben werden muss, dass sich damit das Milliarden-Projekt als überflüssig, ja ausschließlich schädlich erweist. Das Allgemeine Eisenbahnnetz bestimmt, dass Bahnanlagen, die die DB nicht mehr betreiben will, anderen Bahnunternehmen angeboten werden müssen: Die DB AG behauptet, dies gelte für Stuttgart nicht, der wissenschaftliche Dienst des Bundestags widerspricht dem. Eine eigens gegründete „Stuttgarter Netz AG“ klagt deswegen und will Teile der vorhandenen Bahnanlagen übernehmen: Der steuerzahlende Bürger fragt fassungslos: Wie können Politiker und Bahnvorstände sieben Milliarden ausgeben, ohne dass der Erfolg dieser gigantischen Ausgabe vorab geklärt ist?
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