TTIP und TiSA – Boulevard Potemkin – Editorial
Kleinstadt pflastert Zebrastreifen mit Carrara-Marmor!
Sporthallen, Bäder und öffentliche Einrichtungen auf Großstadtniveau!
Unvorstellbar?
Ich hatte das Glück in einer solchen Gemeinde aufwachsen und zur Schule gehen zu dürfen. Das schwäbische Sindelfingen in den 1970ern. Dort ist das weltweit größte Werk der Daimler AG angesiedelt. Umgerechnet 140 Millionen Euro betrugen 1972 die jährlichen Gewerbesteuereinnahmen der Stadt. Es wurde gebaut „auf Teufel komm raus“. Vereine wurden mit Sportstätten und Badezentren verwöhnt, weil die Gemeinde förmlich im Geldschwamm. In den 80er-Jahren begann die Wende, nicht nur für Sindelfingen. Heute, 40 Jahre später, muss die Stadt mit rund 55 Millionen Euro Steuereinnahmen auskommen. Daimler hat immer noch circa 30.000 Beschäftigte in der Stadt. 2014 lagen 11 Mrd. Euro flüssige Mittel auf den Konten des Autobauers. Das ist doppelt so viel, wie er 1972 weltweit umgesetzt hat. Die Stadt, in der vor 100 Jahren das Daimlerwerk angesiedelt wurde, muss heute, wie viele andere in Deutschland auch, öffentliche Einrichtungen schließen und Leistungen für Bürgerinnen und Bürger drastisch zurückschrauben.
Aus einem mit dem kommunalen Leben verbundenen Unternehmen wurde ein Global Player, der in der reichsten Welt, die es je gab zu den finanzstärksten Konzernen gehört. Ein Reichtum, der sich vom realen Wirtschaften und Leben getrennt und auf eine virtuelle Reise in „Märkte“ begeben hat, die kaum jemand versteht, aber dennoch Wirkung auf das tägliche Leben jedes Einzelnen entfalten.
Die Global Player in Europa und den USA setzen sich für die nächste Stufe der Schaffung von Rahmenbedingungen ein, die dem Erhalt und Ausbau ihrer (Wirtschafts) Macht dienen.
TTIP und TiSA. Was steckt in Wahrheit hinter der glänzenden Fassade dieser geplanten Abkommen?
Vizekanzler Sigmar Gabriel sprach in einer Grundsatzrede am 23. 10. 2014 an der renommierten Harvard Universität. Das Freihandelsabkommen TTIP nannte er ein historisches Projekt. Die fundierten und konstruktiven Bedenken, die für enormen Gegenwind im Land seiner Wähler sorgen, reduzierte er auf die Angst vor Chlorhühnchen. Was hat es zu bedeuten, wenn eine politische Entscheidung mit derlei großer Tragweite von einem führenden Volksvertreter kabarettistisch interpretiert wird?
Zwischen den USA und Europa gibt es keine nennenswerten Handelshemmnisse mehr. Was TTIP und TiSA bringen, ist auf subtile Art bedrohlich. „Investitionsschutzprogramm“ klingt nicht gefährlich. Bei genauerem Hinsehen verbirgt sich dahinter ein System, das alle rechtlichen Grundlagen – teilweise in langwierigen demokratischen Prozessen errungen – in Ländern, Städten und Gemeinden aushebelt und eine undemokratische Paralleljustiz installiert. Unternehmen, vornehmlich die finanzstarken Global Player, könnten zukünftig über internationale Gerichte nationales Recht unterlaufen. Die in immensen Summen akkumulierte Kapitalmacht braucht ein „Spielfeld“, das nicht vom »Klein-Klein« einzelner Ländergesetze aufgehalten werden darf.
Die Geheimniskrämerei und die Zusammensetzung der Verhandelnden vermitteln das Gefühl, dass wir es bei dem Abkommen mit einer Sache zu tun haben, die einer elitären Minderheit von Nutzen sein wird. Gewinne sicherstellen, Verluste und Risiken der anonymen Allgemeinheit übertragen, heißt einmal mehr das Motto.
Die Kapitalfülle samt deren Konzentration auf Wenige sind Folgen eines über Jahrzehnte wirkenden Geldsystems. Irgendwann in den 1980er-Jahren haben nicht nur Unternehmen wie Daimler die Bodenhaftung verloren. Das sich durch Zins und Zinseszins vermehrende Kapital koppelte von der Realwirtschaft ab, weil dessen Wachstum nicht Schritt halten konnte. Die Globalisierung,
samt ihrer den Kapitalverkehr befreienden Maßnahmen, hat auch in dieser Zeit seinen Ursprung. Der Selbstvermehrungsdynamik des Kapitals müsste über grundlegend neue Konzepte begegnet werden. Regulative Instrumente ohne Erneuerungsanspruch bleiben Symptombekämpfung. Auf dem Rücken des „Chlorhuhns“ werden mit TTIP und TiSA milliardenschwere Gewinnmöglichkeiten auf Gebieten ins Land getragen, die für viele unvorstellbar sind. Demokratisch gewählte Räte und Länderparlamente könnten zu Statthaltern degradiert werden. Lokale Gestaltungspolitik würde auf die Fassadenfarbe
der öffentlichen Gebäude reduziert.
Die handwerkliche Umsetzung der Handelsabkommen ist schändlich und einer Demokratie des 21. Jahrhunderts unwürdig. Die Front gegen das Inkrafttreten unter den Menschen in Europa wächst rasant. Bleibt zu hoffen, dass es nicht nur zur erfolgreichen Verhinderung kommt, sondern auch zu einem politischen Willen, das System selbst zu verändern.
Herzlich grüßt Ihr Andreas Bangemann
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