Kanarienvogel in der Kohlenmine – Editorial

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Vom 15. bis 17. Mai durfte ich im Euro­pa­par­la­ment in Brüs­sel die Konfe­renz „Beyond Growth“ miter­le­ben. Ich stimme jenen zu, die die Veran­stal­tung histo­risch nennen. Warum ich das denke, können Sie dem Beitrag in dieser Ausga­be entneh­men. Als Ursula von der Leyen in ihrer Eröff­nungs­re­de Bezug nahm zum legen­dä­ren Bericht des Club of Rome von 1972 „Gren­zen des Wachs­tums“, in dem eine Trend­wen­de des Wirt­schaf­tens ange­mahnt wurde, war mein erster Gedan­ke: „Das ist heuch­le­risch!“. Natür­lich war es schlau von ihr und auch passend, mit diesem Verweis eine Konfe­renz zu eröff­nen, auf der Wege aus einer Wirt­schafts­wei­se aufge­zeigt werden sollen, die auf unend­li­ches Wachs­tum program­miert ist: „Beyond Growth – Jenseits des Wachs­tums“. Bezug zu diesem Werk zu nehmen, zu dem die Wissen­schaft­ler Donella und Dennis Meadows mit ihren Forschun­gen und Simu­la­tio­nen maßgeb­lich beitru­gen, lag nah. Aber für mich fühlte es sich falsch an, wenn eine Vertre­te­rin konser­va­ti­ver Poli­tik diese bahn­bre­chen­de Arbeit verein­nahm­te. Die EU-Kommis­si­ons­prä­si­den­tin hieß stets Entschei­dun­gen gut – und tut das weiter­hin –, die die Welt in den letz­ten 50 Jahren in die heuti­ge bedroh­li­che Lage führten.
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Eine der Schluss­fol­ge­run­gen, die der Club of Rome damals zog, laute­te: „Unsere gegen­wär­ti­ge Situa­ti­on ist so verwi­ckelt und so sehr Ergeb­nis viel­fäl­ti­ger mensch­li­cher Bestre­bun­gen, daß keine Kombi­na­ti­on rein tech­ni­scher, wirt­schaft­li­cher oder gesetz­li­cher Maßnah­men eine wesent­li­che Besse­rung bewir­ken kann. Ganz neue Vorge­hens­wei­sen sind erfor­der­lich, um die Mensch­heit auf Ziele auszu­rich­ten, die anstel­le weite­ren Wachs­tums auf Gleich­ge­wichts­zu­stän­de führen. Sie erfor­dern ein außer­ge­wöhn­li­ches Maß von Verständ­nis, Vorstel­lungs­kraft und poli­ti­schem und mora­li­schem Mut. Wir glau­ben aber, daß diese Anstren­gun­gen geleis­tet werden können, und hoffen, daß diese Veröf­fent­li­chung dazu beiträgt, die hier­für notwen­di­gen Kräfte zu mobilisieren.“
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In den 50 Jahren, die folgen soll­ten, mobi­li­sier­te man alle Kräfte, mit denen das welt­wei­te Wirt­schafts­wachs­tum bis heute um mehr als das zehn­fa­che gestei­gert werden konnte. Mit dem dazu­ge­hö­ri­gen „Verbren­nen“ von Ressour­cen, die Jahr­mil­lio­nen für ihre Entste­hung brauch­ten. Wagte es unter­des­sen jemand, von Gleich­ge­wichts­zu­stän­den hinsicht­lich wirt­schaft­li­cher Tätig­keit zu spre­chen, wurde er von Ökono­men und Poli­ti­ke­rin­nen an den Pran­ger gestellt oder einfach ignoriert.
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In diesen Tagen wäre Helmut Creutz 100 Jahre alt gewor­den. Die letz­ten Jahr­zehn­te seines Lebens verbrach­te er damit, Daten zu sammeln und diese in außer­ge­wöhn­li­chen Grafi­ken zu visua­li­sie­ren. In seiner Arbeit findet man einen wesent­li­chen Grund, weshalb die Wirt­schaft zum ewigen Wachs­tum verdammt ist. Er wies nach, dass trotz enor­mer Anstren­gun­gen die Wirt­schafts­leis­tung „nur“ linear wach­sen kann, obwohl Wachs­tums­ra­ten gemes­sen wurden, als handle es sich um expo­nen­ti­el­les Wachs­tum. Diese Art zu messen hat zur Folge, dass ein jähr­lich gleich­blei­ben­des Wachs­tum, von beispiels­wei­se 10 Einhei­ten bezo­gen auf den Ausgangs­wert von 100 in Jahres­frist zu einer gerin­ge­ren Prozen­tra­te führt, da weite­re 10 Einhei­ten im 2. Jahr nur noch ein Wachs­tum von rund 9% erge­ben (10 in Bezug zu 110). In der herr­schen­den Ökono­mie spricht man dann, den Teufel Rezen­si­on an die Wand malend, von zurück­ge­hen­der Wirt­schafts­kraft. Für diese Abson­der­lich­keit suchte Helmut Creutz eine Begrün­dung und fand sie in der Entwick­lung der Geld­ver­mö­gen. Deren Wachs­tum wird der Wirt­schafts­leis­tung entnom­men und verlief nicht etwa wie das von mensch­li­chem Leis­tungs­ver­mö­gen begrenz­te Wirt­schafts­wachs­tum, sondern weit­aus stär­ker. Während die Welt­wirt­schaft seit 1972 um das Zehn­fa­che wuchs, verfünf­zig­fach­ten sich die Geld­ver­mö­gen im glei­chen Zeit­raum. Eine Geld­an­la­ge schert sich weder um den Zustand der Natur noch um die Leis­tungs­fä­hig­keit von Menschen. Was die höchs­te Rendi­te bietet, ist das Juwel im Port­fo­lio priva­ter und insti­tu­tio­nel­ler Kapi­tal­an­le­ger, gleich­gül­tig, welche Schä­den dadurch verur­sacht werden. Um dem Trend der Zeit gerecht zu werden, lässt man für das weite­re „grüne“ Kapi­tal­wachs­tum den Smaragd als symbo­li­sches Juwel gelten, ohne auch nur das gerings­te am Prin­zip expo­nen­ti­el­len Wachs­tums von Geld­ver­mö­gen zu ändern. Zu allem Übel für die Mensch­heit verteilt sich dieser Reich­tum ungleich­mä­ßig und sorgt nicht einmal für eine mate­ri­ell ausba­lan­cier­te Gesell­schaft. Im Mono­po­ly des Kapi­ta­lis­mus konzen­triert sich Geld und Macht gegen Ende des Spiels auf einige Wenige, während Natur und Klima zerstört werden und sich der sozia­le Zusam­men­halt auflöst. Der Ruf nach den „Gren­zen des Wachs­tums“ verhall­te in der Schmud­del­ecke des Wirt­schafts- und Geld­sys­tems. Es hilft nichts, wenn man diese Warnung in Schrift­form wie eine Bibel zum Himmel reckt und sich dennoch gezwun­gen fühlt, ihr mit seinen Entschei­dun­gen zuwiderzuhandeln.
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Ich wage den Vergleich mit dem Kana­ri­en­vo­gel, den Berg­leu­te mit zur Arbeit hinab ins Berg­werk nahmen. Der kleine gefie­der­te Freund galt als Früh­warn­sys­tem, weil er von der Stange fiel, sobald sich das farb- und geruch­lo­se Stick­oxid im Stol­len ausbrei­te­te, den Sauer­stoff verdräng­te und für die Kumpel tödlich enden konnte. Die schmel­zen­den Glet­scher und Eisschich­ten der Erde, die Dürren und Über­schwem­mun­gen, das millio­nen­fa­che Ausster­ben von Tier- und Pflan­zen­ar­ten und vieles mehr, scheucht die Menschen zwar auf und scheint sie zu warnen. Aber den Irrgar­ten des Wirt­schafts­sys­tem­stol­lens verlas­sen sie dennoch nicht, weil man nicht glau­ben kann oder will, dass es etwas jenseits des herr­schen­den Systems über­haupt gibt. Man macht in der Über­zeu­gung weiter, dass das Retten­de nur im Kapi­ta­lis­mus unter Tage zu finden ist.
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Ich habe die mehr als 2.000 jungen Menschen in Brüs­sel erlebt, ihren Willen, Ihr Wissen und Ihr Enga­ge­ment in Orga­ni­sa­tio­nen, Unter­neh­men und loka­len Verbin­dun­gen. Sie saßen auf den Stüh­len der Macht und haben entschie­den: Wir wollen eine Wirt­schaft ohne Wachstum!
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Das stimmt mich zuver­sicht­lich, denn ich weiß, dass dieses Ziel erreich­bar ist, wenn das bestehen­de System über­wun­den wird. Dabei werden die Erkennt­nis­se von Helmut Creutz eine Rolle spie­len. Seine Grund­ge­dan­ken zur Befrei­ung vom Wachs­tums­druck der Kapi­tal­ren­di­ten, die in ein sozia­les und ökolo­gi­sches Gleich­ge­wicht führt, wurden weiter­ge­dacht und finden sich – wie Sie in weite­ren Arti­keln dieser Ausga­be verfol­gen können – in den unter­schied­li­chen sozio-ökolo­gi­schen Gesell­schafts- und Wirt­schafts­mo­del­len wieder.
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Herz­lich grüßt Ihr Andre­as Bangemann
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