Soziale Gerechtigkeit und die Sehnsucht nach Identität – Gero Jenner
GJ: Verehrter Herr Molander. Sie haben sich einen Namen mit der Erforschung menschlicher Ungleichheit gemacht, wozu sie auch besonders qualifiziert erscheinen, da Sie Schwede sind, aufgewachsen in einem Staat, der – weltweit gesehen – in Hinsicht auf materielle Gleichheit auch heute noch eine Vorbildfunktion erfüllt. Außerdem sind Sie in mehreren Fremd-Idiomen, zum Beispiel im Deutschen, gleich gut zuhause wie in der eigenen Muttersprache.
- – -
PM: Sie haben recht, Schweden steht auf der Gini-Skala ziemlich weit oben, die materielle Gleichheit ist ein Anliegen unserer Gesellschaft. In Ländern mit relativ hohen Umverteilungsambitionen wie Australien, Kanada, Finnland und Schweden wurde mehr als die Hälfte des marktgetriebenen Anstiegs der Einkommensungleichheit durch Steuer- und Transfersysteme ausgeglichen. Dadurch werden soziale Spannungen abgebaut, weil zwischenmenschlicher Neid eine geringe Rolle spielt. Wo immer materielle Ungleichheit gering ist, wächst das Vertrauen unter den Menschen. Denn es ist eine konsistente Beobachtung, dass Vertrauen und Gleichheit eine starke Korrelation aufweisen: Je gleicher eine Gesellschaft ist, desto mehr Vertrauen empfinden die Menschen zueinander.
- – -
Die positiven Auswirkungen einer derartigen Politik lassen sich übrigens auch unmittelbar messen. In Staaten mit hohem Vertrauen funktionieren die Schulen besser… In Staaten mit hohem Vertrauen geht es Kindern und Jugendlichen besser – gemessen an Kindersterblichkeit, Teenagerschwangerschaften und anderen Gesundheitsvariablen. In Staaten mit hohem Vertrauen ist die Rate der Gewaltverbrechen niedriger. In Staaten mit einem starken Gefühl der Solidarität sind die Menschen im Allgemeinen gesünder. In Staaten mit hohem Vertrauen gibt es weniger Steuerhinterziehung, wie vom amerikanischen Internal Revenue Service geschätzt.
- – -
GJ: Vertrauen ist der soziale Kitt, der Menschen zusammenhält.
- – -
PM: Nicht nur das. Eine Politik materieller Gleichheit zahlt sich auch wirtschaftlich aus. Sie macht einen Staat dynamischer. Wir können empirisch beweisen, dass Gesellschaften schneller wachsen, wenn ihr Anfangszustand dem egalitären Zustand möglichst nahekommt, denn Chancengleichheit ist förderlich für Wachstum.
- – -
GJ: Wenn Vertrauen und wirtschaftliche Dynamik zu den Werten gehören, die jeder Politiker eigentlich erstreben müsste, dann ist allerdings schwer zu erklären, dass Ungleichheit seit den siebziger Jahren in den Staaten des Westens im Vormarsch und heute neuerlich so groß ist wie vor dem zweiten Weltkrieg.
- – -
PM: Sehen Sie, mathematisch gesehen, ist Gleichheit ein unwahrscheinlicher Zustand. Lassen Sie uns zwei Individuen mit gleicher geistiger und körperlicher Ausstattung auf einer Insel aussetzen, wo jeder sich mit den vorhandenen Mitteln eine Existenz aufbaut. Sie werden vermutlich Handel treiben, damit nicht jeder von ihnen dieselben Handgriffe ausführen muss. Was wird dann geschehen? Nach einiger Zeit werden Sie bemerken, dass der eine mehr Glück als der andere hatte – und schon entwickelt sich Ungleichheit. Der Zufall entscheidet letztlich darüber, wer in der Praxis die Oberhand gewinnt, wenn Aufwand und Talent identisch sind. Untersuchungen haben ergeben, dass mehr als 80 Prozent des Realeinkommens einer Person von Umständen abhängen, die sich ihrer Kontrolle entziehen: Geburtsland und familiärer Hintergrund. Diese Effekte entziehen sich unserer Einwirkung führen sehr schnell dazu, dass die einen zunehmend reicher, die anderen ärmer werden.
- – -
GJ: Aber das trifft nicht auf alle Gesellschaften zu. Wo jeder gerade genug zum Überleben hat, herrscht weitgehende Gleichheit – man könnte sagen, diese Gesellschaften sind zur Gleichheit verdammt. In einer Jäger- und Sammlergesellschaft, in der jeder mehr oder weniger am Existenzminimum lebt, gibt es einfach keinen Raum für Ungleichheit, weil die Ressourcen gleichmäßig verteilt werden müssen, um das Überleben aller zu sichern. Erst wenn es einen Überschuss gibt, kann Ungleichheit zwischen Individuen entstehen. Sobald Gesellschaften reicher werden, ist es mit der Gleichheit vorbei. Armut macht gleich, Reichtum potenziert die Unterschiede.
- – -
PM: So ist es. So gesehen könnte man sagen, dass Reichtum unglücklich macht, denn er bringt Neid hervor und zerstört das Vertrauen. Da in historischer Sicht zu keiner Zeit Gesellschaften so reich waren wie in unserer Zeit, läuft dieser Trend de facto darauf hinaus, dass moderne Gesellschaften stärker durch Neid und den Verlust an Vertrauen gefährdet sind als die meisten Gesellschaften in der Vergangenheit. Eine solche Entwicklung führt zu sozialer Instabilität. Wenn in einem Staat einige weniger immer reicher, die Mehrheit aber relativ ärmer wird, provoziert eine solche Entwicklung letztlich sozialen Aufruhr, sofern der Staat nicht als ausgleichende Instanz in Erscheinung tritt. Um des sozialen Friedens willen sieht er sich genötigt, den übermäßigen Reichtum ebenso einzuschränken wie die bedrückende Armut.
- – -
GJ: Sie sagten gerade, dass eine egalitäre Gesellschaft die beste Voraussetzung für das Wachstum biete. Da Wachstum aber eine Zunahme an Reichtum bedeutet, ergibt sich daraus größere Ungleichheit. Demnach ist gerade eine besonders egalitäre Gesellschaft stets in Gefahr, den Zustand der Gleichheit aus eigener Kraft zu zerstören, und zwar aufgrund ihres besonderen Wachstumspotenzials.
- – -
PM: Gewiss, aber damit genau das nicht geschieht, muss ein Sozialstaat korrigierend eingreifen und überdies für ein Bildungssystem sorgen, das allen Bürgern die Chance des Aufstiegs bietet. Der Staat tritt dabei nicht allein als Akteur in Erscheinung, sondern auch private Interessenvertretungen wie die Gewerkschaften müssen im Sinne der sozialen Gerechtigkeit tätig sein. Beiden Akteuren ist es zu danken, dass in skandinavischen Ländern bis heute ein hohes Maß an materieller Gleichheit herrscht.
- – -
GJ: Herr Molander, dann hätten wir doch eigentlich den Idealstaat geschaffen – ein Perpetuum mobile! Die egalitäre Gesellschaft schafft ein Maximum an Vertrauen und Wachstumspotenzial, während der Staat durch seine Eingriffe dafür sorgt, dass Wachstum nicht zu größerer Ungleichheit führt und damit zu geringerem Wachstum. Wenn das der ideale Zustand einer Gesellschaft ist, wie erklären Sie dann, dass soziale Gerechtigkeit in der öffentlichen Diskussion eine immer geringere Rolle spielt? Arbeiterzeitungen sind der Reihe nach eingegangen, auch Gewerkschaften befinden sich überall auf dem Rückzug – und das, obwohl Ungleichheit seit etwa einem halben Jahrhundert wieder grell in Erscheinung tritt. Wenn soziales Vertrauen oder gar wirtschaftliches Wachstum von so großer Bedeutung sind, wieso wollen so viele Menschen von dieser Thematik nichts mehr hören? Warum werden stattdessen rechte Parteien gewählt und kommen populistische Thesen, z. B. Nationalismus und Fremdenhass, bei den Massen besser an als die linken Aufrufe zu mehr sozialer Gleichheit?
- – -
PM: Sehen Sie, Herr Jenner, für die meisten herrschenden Eliten in der Geschichte, ob demokratisch gewählt oder nicht, ist es primäres Ziel, an der Macht zu bleiben, und das öffentliche Interesse ist bestenfalls ein Mittel zu diesem Zweck. Aber es stimmt, dass es ihnen erst seit etwa den achtziger Jahren gelang, sich immer mehr über das öffentliche Interesse hinwegzusetzen. Im Jahr 1965 verdiente der durchschnittliche amerikanische CEO eines größeren Unternehmens 24-mal so viel wie der durchschnittliche Arbeiter. Im Jahr 2005 war diese Zahl auf 262 angestiegen. In Schweden wird dieser Quotient seit 1950 gemessen, damals lag er bei 26. Im Jahr 1980 war er am niedrigsten (9), um dann im Jahr 2011 auf 46 zu steigen. Wie konnte es dazu kommen? Da sind einmal die großen internationalen Konzerne, die mit ihrem neoliberalen Kurs einzelne Staaten und die Gewerkschaften unter Druck gesetzt haben. Durch Auslagerung wurden zudem viele einst gut bezahlte Jobs nach Asien transferiert, Jobs, die bis dahin auch jenen Menschen bei uns einen gut bezahlten Arbeitsplatz boten, die keine besondere Ausbildung besaßen. Inzwischen schlägt die Digitalisierung weitere Schneisen in unsere Arbeitswelt – anders gesagt, haben Globalisierung und technologischer Fortschritt viele Arbeitsplätze vernichtet. Dadurch hat sich der Abstand von arm und reich zwangsläufig erhöht. Auslagerung und Globalisierung setzten in den achtziger Jahren ein, die Digitalisierung wirkte sich etwas später aus.
- – -
GJ: In Ihrem Buch betonen Sie die Tatsache, dass Europas Gesellschaften in den drei Nachkriegsjahrzehnten, also bis in die siebziger Jahre, ein Maximum an sozialer Gleichheit erzielten.
- – -
PM: Ja, die bemerkenswerte Ausnahme vom allgemeinen Muster steigender Ungleichheit – in Größe und Ausmaß praktisch einzigartig – ist die Nivellierung des Wohlstands im 20. Jahrhundert nach der Gewerkschaftsbildung, der Demokratisierung und dem Wachstum des Wohlfahrtsstaates.
- – -
Mehr online
- – -
Aktuelle Kommentare