Ein Plädoyer für Vernunft in ungewissen Zeiten – Andreas S. Lübbe

Vorwort
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Vernunft beinhal­tet die Fähig­keit, mithil­fe seines Verstan­des durch Beob­ach­tung und Erfah­rung Zusam­men­hän­ge durch Schluss­fol­ge­run­gen herzu­stel­len, deren Bedeu­tung zu erken­nen, Regeln und Prin­zi­pi­en aufzu­stel­len und danach zu handeln. Mensch­li­che Entschei­dun­gen unter­lie­gen nicht immer der Vernunft. Das Gefühl ist eine beglei­ten­de psycho­lo­gi­sche Grund­funk­ti­on. Zu ihr gehö­ren Emoti­on und Intui­ti­on. Manch­mal ziehen Verstand und Gefühl in eine Rich­tung, mitun­ter gehen beide getrenn­te Wege.
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So waren es weni­ger vernunft­ge­steu­er­te Entschei­dun­gen, die den Rassis­ten, Sexis­ten und Demago­gen Donald Trump zum Präsi­den­ten mach­ten. Seine Wähler vertrau­ten diesem ganz auf Emoti­on setzen­den Kandi­da­ten, brach­ten ihm mehr Gefühl entge­gen, als seiner Konkur­ren­tin, obwohl der Verstand ihnen sagte oder hätte sagen müssen, jeden­falls sie hätte wissen lassen können, dass er in der Vergan­gen­heit zu häufig die Unwahr­heit gesagt hatte. Hilla­ry Clin­ton hinge­gen nahm man die Wahr­heit, die sie vernunft­ge­steu­ert von sich gab, jeden­falls die objek­ti­vier­ba­ren Daten und Fakten, am Ende nicht mehr ab. Zu wenige schenk­ten ihr das für einen erfolg­rei­chen Wahl­aus­gang notwe­ni­ge Vertrauen.
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Daten und Fakten, Wissen und Vernunft schei­nen bei vielen Wählern immer weni­ger Gewicht zu besit­zen. Es scheint in einer quasi post­fak­ti­schen Zeit vor allem das Gefühl zu sein, auf das es ankommt, um eine Wahl zu gewin­nen. Zugleich muss sich jeder Kandi­dat oder jede Partei zugleich verschie­de­nen „Wirk­lich­kei­ten“ stel­len und es mit einer realen und einer virtu­el­len oder einer analo­gen und einer digi­ta­len Öffent­lich­keit aufneh­men. Oder auch wie bei Baudril­lard mit der „Schein­haf­tig­keit der Wirklichkeit“.
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Man kann ange­sichts der zuneh­men­den Mani­pu­la­ti­on von Wahr­hei­ten auch fest­stel­len, dass erdach­te „Hinter­grund­wirk­lich­kei­ten“ heute reale „Vorder­grund­wirk­lich­kei­ten“ verdrän­gen und somit selbst zur Vorder­grund­wirk­lich­keit mutie­ren. Damit würde das Irrea­le zur Reali­tät. Es wäre zum Beispiel der Fall, wenn amtli­che Zahlen, offi­zi­el­le Statis­ti­ken und mess­ba­rer Lebens­stan­dard von immer mehr Bürgern als Tatsa­chen igno­riert und diese damit anfäl­lig für Unwahr­hei­ten würden. Seriö­sem Jour­na­lis­mus bringt man mehr­heit­lich (60:40) schon längst kein Vertrau­en mehr entge­gen und Minder­hei­ten diffa­mie­ren ihre Vertre­ter pauschal sogar als „Lügen­pres­se“. Poli­ti­sche Entschei­dungs­trä­ger gelten angeb­lich immer häufi­ger als „welt­fremd“ und das intel­lek­tu­el­le „Estab­lish­ment“ als abge­ho­ben. Das wird solan­ge behaup­tet, bis es zur norma­ti­ven Kraft wird. Mit ihnen will man als Wähler nichts zu tun haben. Wehe den Tech­no­kra­ten an den Schreib­ti­schen in Brüs­sel, die sich mit Büro­kra­ten über die Zukunft der euro­päi­schen Jugend strei­ten. Fakten­fi­xier­ten, die mit wissen­schaft­li­cher Metho­dik zu klären versu­chen, was besser mit Emoti­on und Bauch­ge­fühl, Lebens­er­fah­rung und Menschen­lie­be gerich­tet werden könnte. Die post­fak­ti­sche Reali­tät hat Europa längst erreicht, nur, dass auf der Gefühls­ebe­ne anstatt von Liebe und Vorsor­ge oder Verständ­nis­be­reit­schaft und Hinga­be vor allem Hass und Größen­wahn domi­nie­ren oder Wunsch­den­ken und Wut. Mit Wut verab­schie­de­ten sich engli­sche Bauern aus der EU oder die weißen Männer mit nied­ri­gem Bildungs­stand aus Kentu­cky vom Washing­to­ner Establishment.
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Immer häufi­ger stoßen Demago­gen und Popu­lis­ten in den sozia­len Medien auf große Zustim­mung, nach­dem sie Teile der Wahr­heit in mani­pu­la­ti­ver Absicht einfach wegge­las­sen haben. Den unüber­hör­ba­ren Akteu­ren im Netz und auf den Stra­ßen sind Fakten und Zusam­men­hän­ge zumeist fremd oder wenigs­tens unan­ge­nehm. Die Bezeich­nung bildungs­fern trifft es teil­wei­se, andere sind daten­re­sis­tent oder einfach verklärt. Damit läge der Ball aller­dings auch im Spiel­feld der Verant­wor­tungs­trä­ger, also der Fami­lie und der Gesell­schaft, nicht zuletzt „der (Bildungs-)Politik“. Ihre Aufga­be hätte es sein sollen die Rahmen­be­din­gun­gen so zu gestal­ten, dass trotz aller Unter­schie­de jedes Kind nach seinen Talen­ten, Fähig­kei­ten und Moti­va­tio­nen geför­dert wird. Beide, die poli­ti­sche und die gesell­schaft­li­che Klasse haben bei der konkre­ten Zubil­li­gung der „Chan­cen­gleich­heit“ in den meis­ten Ländern versagt und tun es weiter­hin. Man ließ zu, dass fast ein Fünf­tel der jungen Leute keinen Schul- oder Ausbil­dungs­ab­schluss erhält und mit seiner Zeit wenig Vernünf­ti­ges anzu­fan­gen weiß. Ich nenne es komplet­tes Bildungs­ver­sa­gen. Dass sich daran bislang wenig geän­dert hat, ist bildungs­bür­ger­li­che Arro­ganz, nicht die falsche Behaup­tung, der Jour­na­lis­mus trüge eine Mitschuld, weil er über die Misere nicht berich­tet hätte. Das hat er; folgen­los. Jeder vierte Jugend­li­che in Europa wartet auf einen Arbeits­platz. Weiter­qua­li­fi­zie­rungs- und Arbeits­be­schaf­fungs­maß­nah­men die den Namen verdie­nen und die quan­ti­ta­tiv über­zeu­gen sucht man weiter­hin vergeb­lich. Eine komplet­te Gene­ra­ti­on wurde leicht­fer­tig verlo­ren gege­ben. Was nutzen Maas­tricht Krite­ri­en, wenn die Menschen am Exis­tenz­mi­ni­mum darben?
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Bildungs­fer­ne und Daten­re­sis­tenz nehmen Einfluss auf das Verhal­ten der Wähler. Man bastelt sich seine persön­li­che Wahr­heit, wählt Quel­len die einem gewünsch­te (oft einsei­ti­ge, leicht verdau­li­che, dem Boule­vard entstam­men­de) Infor­ma­tio­nen liefern oder bedient sich gleich ganz unse­riö­ser Nach­rich­ten­diens­te. Zwei von drei Ameri­ka­nern infor­mie­ren sich über die Ereig­nis­se im Land oder auf der Welt über sie sozia­len Medien. Dabei scheint neben dem Wissen auch das Gewis­sen, das den inne­ren Gefüh­len Einhalt gebie­ten­de Über-Ich, immer häufi­ger außer Kraft gesetzt. Verant­wort­li­che haben dabei versagt die Menschen aufzu­klä­ren, mitzu­neh­men und mit ihnen über berech­tig­te Ängste zu spre­chen. Das Welt­ge­sche­hen ist nun mal sehr komplex. Anstatt das zuzu­ge­ben hüllen Verant­wor­tungs­trä­ger aus der Poli­tik das Wahl­volk lieber in Watte, werfen sich banale Dinge an den Kopf oder drama­ti­sie­ren Bana­li­tä­ten. Der Gipfel der Obszö­ni­tät ist dann das Ange­bot der Popu­lis­ten von einfa­chen Lösun­gen für komple­xe Sach­ver­hal­te mit dem allei­ni­gen Ziel dem Volk zu gefal­len. Nicht jeder spürt diese Schwin­de­lei. Noch schät­zen die meis­ten Menschen Ehrlich­keit und Authen­ti­zi­tät, auch bei unan­ge­neh­men Sach­ver­hal­ten und entlar­ven die Schaum­schlä­ger und Wende­häl­se. Zugleich ist das Herab­wür­di­gen von Spit­zen­po­li­ti­kern mitt­ler­wei­le zum Volks­sport gewor­den. Als seien sie nach Belie­ben zu erset­zen. Man fordert bruch­lo­se Biogra­fien ohne jeden Makel. Gestat­tet man sich jedoch einen länder­über­grei­fen­den Blick, findet sich kaum ein ande­rer Staat mit besse­rem Spit­zen­per­so­nal. Bege­hen die „Eliten“ Straf­ta­ten („Diesel­ga­te“, Straf­zah­lun­gen der Deut­schen Bank, „Panama Papers“, Korrup­ti­on bei FIFA und DFB, Vertu­schung von Doping durch die WADA u. a.) unter­gräbt dies das Vertrau­en zusätz­lich und macht für Popu­lis­ten erst recht anfäl­lig. Die Reak­ti­on darauf durch das Wahl­volk ist allzu mensch­lich. Man zieht sich zurück, setzt auf natio­na­le Gren­zen, stimmt in das Lied gegen die Globa­li­sie­rung ein und stellt sich hinter dieje­ni­gen, die einem einfa­che Lösun­gen anbie­ten, Ängste ernst nehmen oder so tun als ob. Der Mensch ist eben ein Mängel­we­sen, chan­gie­rend zwischen Stre­ben nach Perfek­ti­on und Abgrund.
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Nun kann man über den Lauf der Welt natür­lich unter­schied­li­cher Meinung sein. Reiner Posi­ti­vis­mus und die Fixie­rung auf Fakti­zi­tät, in der nur das Mess­ba­re und Mathe­ma­ti­sche Gültig­keit besitzt, kann nicht Grund­la­ge unse­rer Kultur sein. Jeder Mensch konstru­iert sich seine eigene Welt. Jeder von uns trifft Entschei­dun­gen darüber, was er als Fakten aner­kennt. Worauf es aller­dings ankom­men muss, ist, wie infor­miert und wie diffe­ren­ziert die Entschei­dun­gen getrof­fen werden und welche Ziele, Pläne und Visio­nen sich daraus ablei­ten. Zu strei­ten kann sehr inspi­rie­rend sein. Doch wenn Tatsa­chen nicht aner­kannt werden, der Klima­wan­del als Hirn­ge­spinst abge­tan wird, oder wenn dieje­ni­gen, die sich zur Gentech­nik äußern nicht die mögli­chen Vor- und Nach­tei­le kennen, oder wenn, im Falle des Brexit, mit falschen Zahlen zum Gesund­heits­we­sen auf Stim­men­fang gegan­gen wird, dann ist eine Diskus­si­on erledigt.
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Mindes­tens drei Phäno­me­ne prägen also die Gegen­wart der west­li­chen Indus­trie­na­tio­nen und bedro­hen sie zugleich: eine große Zahl bildungs­fer­ner oder verklär­ter Menschen, einzel­ne oder Grup­pen, die es auf sie abge­se­hen haben und mit erfun­de­nen Wahr­hei­ten und konstru­ier­ten Behaup­tun­gen durch die Gassen und Gossen der Affek­te ihre Ziele verfol­gen sowie die sozia­len Medien in Kombi­na­ti­on mit moder­nen Compu­ter­al­go­rith­men. Sie verbrei­ten die Fiktio­nen oder Lügen (als Fakten dekla­rier­te Fiktio­nen) in Windes­ei­le und mit hohem Streu­po­ten­zi­al, wie etwa in den USA die Lüge der Papst hätte sich für Trump ausgesprochen.
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Demo­kra­ti­sche Legi­ti­ma­ti­on auf der Grund­la­ge von Lügen ist demnach keine. Spätes­tens an dieser Stelle offen­bart sich ihre Schwä­che. Wer Mehr­hei­ten kate­go­risch als das Maß der Dinge ansieht, setzt die Vernunft außer Kraft, wenn sie durch Unwahr­hei­ten zustan­de kommen. Unter diesen Umstän­den sind Wohl­erge­hen und Frie­den einer Gesell­schaft in Gefahr. Nun gehö­ren zur Demo­kra­tie mehr als nur die Mehr­heit der Stim­men und der Auftrag zur Bildung einer Regie­rung. Die Verfas­sung und die Gewal­ten­tei­lung sind fester Bestand­teil von „checks and balan­ces“, aber auch die Grund­ord­nung inklu­si­ve eine Begren­zung der Amts­zeit begren­zen die Folgen indi­vi­du­el­len Fehl­ver­hal­tens. Dem Estab­lish­ment, den Intel­lek­tu­el­len, Poli­ti­kern, Jour­na­lis­ten und Lehrern wird nichts ande­res übrig­blei­ben, als die Ausein­an­der­set­zung auf den Plät­zen, im Netz und in den Parla­men­ten zu suchen. Einfach wird das nicht. Es stellt sich nämlich nicht nur die Frage, auf welche Weise ein solcher Austausch möglich sein kann. Es erfor­dert zunächst das Einge­ständ­nis, sich darauf einlas­sen zu müssen. Dieser Arti­kel will einen entschie­de­nen, mitun­ter auch einen vorsich­ti­gen Blick in die Zukunft wagen.
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Vom Wert der Freiheit
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Über die kommen­den Jahr­zehn­te werden poli­ti­sche, klima­ti­sche, biolo­gi­sche, geogra­fi­sche und wissen­schaft­li­che Ereig­nis­se das Welt­ge­fü­ge so erheb­lich beein­flusst haben, dass die Bedin­gun­gen unter denen die Menschen dann auf der Erde leben mit den heuti­gen kaum vergleich­bar sein dürf­ten. Die elemen­ta­ren Bedürf­nis­se und Ziele von Homo sapi­ens hinge­gen werden weiter Bestand haben. Frie­den und Sicher­heit, Frei­heit und Wohl­stand gehö­ren dazu, wie auch eine stabi­le Gesund­heit und ein erfül­len­der Arbeits­platz. Der Wunsch und Wille, dass es auf der Welt endlich gerech­ter zugeht und es die kommen­den Gene­ra­tio­nen besser haben als heute, gehört mit dazu. Man kann sich im Para­dies nicht wohl­füh­len während es andern­orts wie in der Hölle zugeht. Unsere Evolu­ti­on hat dazu geführt, dass sich die Werte von Frei­heit und Gerech­tig­keit in viele Regio­nen unse­res Globus verbrei­ten konn­ten. Auch wenn reli­gi­ös moti­vier­te Ereig­nis­se die erkämpf­te Frei­heit schon immer gefähr­de­ten, so will sie der Mensch an sich. Jede Reli­gi­on kann auf Dauer nur bestehen, wenn sie dem Indi­vi­du­um ein Mindest­maß an Frei­heit gestat­tet. Wenn sie der Frau die glei­chen Rechte zuge­steht wie dem Mann. Wenn sie der Gewalt abschwört und andere Formen des Glau­bens oder auch den Nicht­glau­ben respektiert. … 

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