Wir hassen wieder – Pat Christ

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In Sachen Pazi­fis­mus scheint eine mora­li­sche Abwärts­spi­ra­le in Gang gesetzt zu sein
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Jahr­zehn­te­lang waren die Fran­zo­sen des Deut­schen Lieb­lings­feind. Im Januar 2021 schrieb der „Spie­gel“ darüber einen tref­fen­den Hinter­grund­ar­ti­kel. Der Bericht zeigt die Wurzeln des Hasses auf. Die liegen in der Zeit Napo­le­ons. Und er zeigt auf, wie Intel­lek­tu­el­le den Fran­zo­sen­hass schür­ten. Unser­eins kann sich heute über­haupt nicht mehr vorstel­len, wie man Fran­zo­sen hassen kann. Sie sind unsere guten Nach­barn. Aller­dings gibt es neue Hass­ob­jek­te. Zum Beispiel „die“ Russen.

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Und wieder mal sind wir bei einem äußerst heik­len Thema. Bei einem, bei dem man schnell mit dem Maul­korb konfron­tiert wird. Bei einem, wo es Sagba­res gibt. Und Uner­hör­tes. Posi­tiv über Russ­land oder „die“ Russen zu spre­chen, ist dieser Tage nach­ge­ra­de verpönt. Die Russen, das sind die, die einen grau­en­vol­len Krieg ange­zet­telt haben. Die Russen, das sind die, die gerade wahl­los morden. Die Russen, das sind die, die just einen infa­men Völker­rechts­bruch bege­hen. Die Russen, das sind die, die für Hunger sorgen. Die Russen, das sind die, die den Gashahn abdre­hen. Die Russen, das sind die, die alles teurer machen. Und reden kann man mit denen schon gar nicht.
Das Verhält­nis zu „den“ Russen ist nicht nur getrübt. Wäre es das, könnte hier oder da nach­ge­bes­sert werden. Und der Weg zum Frie­den wäre frei(er). Das Verhält­nis scheint schwerst­ge­stört. Und das ist fatal. Das ist deshalb fatal, weil es Frie­dens­be­mü­hun­gen sabo­tiert. Weil es jene, die für Frie­den kämp­fen, in Miss­kre­dit bringt. Vor allem Letz­te­res ist äußerst fatal. Das ist fatal ange­sichts der Tatsa­che, dass immer offe­ner mit dem Einsatz nuklea­rer Waffen gedroht wird. Diese Bedro­hung sollte auch dann, wenn man sie „nur“ als Droh­ge­bär­de sehen mag, ernst genom­men werden, sagt mir der Berli­ner Frie­dens­ar­bei­ter Dirk Splin­ter. Und fordert umge­hen­de Verhandlungen.
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Doch es wird nicht verhan­delt, jeden­falls nicht vollen Herzens und frie­dens­be­seelt, obwohl klar ist, dass am Ende Verhand­lun­gen stehen müssen. Diese Verhand­lun­gen werden auch nicht einfach sein, prognos­ti­ziert Splin­ter, der sich seit vielen Jahren sowohl in der Ukrai­ne als auch in Russ­land als Media­tor in der Frie­dens­ar­beit enga­giert. Nach seiner Einschät­zung werden auf beiden Seiten „sehr schmerz­haf­te Kompro­mis­se“ nötig sein. Gleich­zei­tig warnt der Frie­dens­spe­zia­list davor, diese Verhand­lun­gen in der Öffent­lich­keit vorweg­zu­neh­men, also öffent­lich zu disku­tie­ren, wer wohl welche Zuge­ständ­nis­se zu machen hat. Das erwei­se sich in der Regel als nicht deeskalierend.
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„Ausge­putz­ter Affe“
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Derzeit ist es ohne­hin noch so, dass jeder aus Sicht des Main­streams primi­tiv daher­re­det, der Verhand­lun­gen fordert. Mit „den“ Russen ist nun mal nicht zu verhan­deln. „Der“ Russe will das nicht. Er ist dazu gar nicht fähig. Das sind typi­sche Unter­stel­lun­gen, wenn gehasst wird. So war das mit dem Hass auf die Fran­zo­sen. In dem oben erwähn­ten „Spiegel“-Artikel wird der Schrift­stel­ler Ernst Moritz Arndt zitiert. Der wusste ganz genau, wie und was der Fran­zo­se ist. Nämlich „ein leeres, hohles, puppi­ges, gestalt­lo­ses, und gehalt­lo­ses Nichts, ohne Kraft, Bedeu­tung, und Karak­ter, ein zier­li­cher Lakai, ein gebück­ter Knecht, ein ausge­putz­ter Affe, ein knif­fi­ger und pfif­fi­ger Jude“.
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Nur Quer­trei­ber sehen das wieder mal anders. Nur die sind „den“ Russen nicht prin­zi­pi­ell feind­lich gesinnt. Munter unter­stellt man diesen Menschen denn auch, sie seien folge­rich­tig für Krieg. Für das Morden. Nur Quer­trei­ber verwei­sen darauf, dass es eine Vorge­schich­te des Kriegs gibt. Nur Quer­trei­ber verwei­sen auf den Bürger­krieg im Donbaß. Nur Quer­trei­ber verwei­sen darauf, dass die Nato entge­gen einem Verspre­chen stän­dig nach Osten erwei­tert wurde. Ein solcher Quer­trei­ber, meint Dirk Splin­ter, ist inzwi­schen sogar der Papst. Hatte der doch unlängst, päpst­lich-poetisch, geäu­ßert, dass „das Bellen der Nato an Russ­lands Tür“ für den Krieg mitver­ant­wort­lich sei.
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Ich gehe einmal davon aus, dass den Papst seine Worte nicht reuen. Der Papst ist letzt­lich sakro­sankt. Bei vielen ande­ren Menschen, die sich Gedan­ken machen und zu Schlüs­sen jenseits des Main­streams kommen, geht jedoch Angst um. Auch Dirk Splin­ter hat ein etwas mulmi­ges Gefühl nach dem Gespräch mit mir, als er hört, dass ich als freie Jour­na­lis­tin mit Blick auf die grund­ge­setz­lich verbrief­te Pres­se­frei­heit niemals vorab einen Text zum Abseg­nen heraus­ge­be. Ich verste­he seine Sorge ange­sichts der unsäg­li­chen Diskus­si­ons­un­kul­tur hier­zu­lan­de, man denke nur an die „Lanz“-Sendung mit Ulrike Guérot, und verspre­che, ihn nicht wört­lich zu zitieren.
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„Geißel der Menschheit“ 

Ich bin Dirk Splin­ter jeden­falls dank­bar, dass er mir seine Sicht­wei­se der Dinge geschil­dert hat. Das tut auch Rolf Bader, ehema­li­ger Geschäfts­füh­rer der „Inter­na­tio­na­len Ärzte für die Verhü­tung des Atom­kriegs“ (IPPNW). Für den ehema­li­gen Offi­zier, der zum Frie­dens­ak­ti­vis­ten wurde, ist die aktu­el­le Situa­ti­on aufgrund der nuklea­ren Zuspit­zung brand­ge­fähr­lich. Der 72-Jähri­ge tritt für die Abschaf­fung aller Atom­waf­fen ein. „Sie sind eine Geißel der Mensch­heit“, sagt er mir. Über­haupt sind Kriege für den eins­ti­gen Mili­tär in keiner Weise zu recht­fer­ti­gen: „Und zwar weder Angriffs- noch Verteidigungskriege.“
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Man könnte jetzt einwen­den, dass man sich doch vertei­di­gen müsse. Doch das sieht Rolf Bader aufgrund seiner Frie­dens­for­schun­gen anders: „Jede mili­tä­ri­sche Vertei­di­gung führt am Ende zur Zerstö­rung dessen, was man vertei­di­gen möchte.“ Das gilt im Atom­zeit­al­ter mehr denn je. Laut Bader gibt es welt­weit mehr als 13.000 Atom­waf­fen, wovon fast 4.000 sofort einsetz­bar wären. Bei einem Einsatz kämen sofort viele tausend Menschen ums Leben. „Atom­waf­fen sind eine Geißel der Mensch­heit“, sagt der Pazi­fist, der im Juni den „Lands­ber­ger Frie­dens­kon­gress“ im Vorfeld der Ersten Staa­ten­kon­fe­renz zum Atom­waf­fen­ver­bots­ver­trag in Wien mitorganisierte.
„Frie­den schaf­fen geht anders“, lese ich als Über­schrift über einen Beitrag von Wolf­gang Winter, Kreis­vor­sit­zen­der der ÖDP im Land­kreis Milten­berg. Das inter­es­siert mich und darum schrei­be ich Winter an: Wie steht er zu Waffen­lie­fe­run­gen ins Kriegs­ge­biet Ukrai­ne? „Grund­sätz­lich bin ich gegen Waffen­lie­fe­run­gen in Krisen- und Kriegs­ge­bie­te, da diese eine Eska­la­ti­on begüns­ti­gen“, antwor­tet er mir. Aller­dings: „Im Fall der Ukrai­ne gilt meines Erach­tens diese grund­sätz­li­che Einstel­lung nicht.“ Die Ukrai­ne sei schließ­lich völker­rechts­wid­rig ange­grif­fen worden. Nun müsse sie vom übri­gen Europa in die Lage versetzt werden, „diesen Angriff erfolg­reich abzuwehren“.
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Mehr Waffen?

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Sicher weiß auch Wolf­gang Winter, der sich in einem vorhe­ri­gen Beitrag als Pazi­fist geoutet hatte, darum, dass mehr Waffen auto­ma­tisch eine Zunah­me an Gewalt, Verstüm­me­lung und Ster­ben bedeu­ten. Doch nach seiner Meinung muss dieser Preis, so bitter er ist, bezahlt werden. Für Winter geht es in dem Konflikt um den „Bestand unse­rer west­li­chen Demo­kra­tien“. Und vor allem: Sollte „der Aggres­sor“ die Ukrai­ne besie­gen, würde sich dieser „neue Ziele für seine impe­ria­lis­ti­sche Poli­tik suchen“. Klar sei auch ihm: „Je mehr Waffen ins Spiel kommen, desto schlim­mer.“ Es gehe ohne­hin „weni­ger um Menschen, sondern um die Gewin­ne der Groß­kon­zer­ne und der USA“. Aha…
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In Sachen Pazi­fis­mus scheint mir eine mora­li­sche Abwärts­spi­ra­le in Gang gesetzt worden zu sein. Ich kann es nicht anders sehen. Ein Frie­dens­for­scher mit Profes­so­ren­ti­tel, dessen Namen ich nicht nennen möchte, sagte mir im Gespräch, es sei eine „radi­kal­pa­zi­fis­ti­sche Haltung“, der Ukrai­ne keine Waffen zu liefern. Ich muss geste­hen, dass mich diese Aussa­ge erschüt­tert hat – obwohl ich als Jour­na­lis­tin mit Blick auf die vergan­ge­nen zwei­ein­halb „Corona-Jahre“ eini­ges gewohnt bin. Wie groß muss der Hass sein, dass nun selbst Pazi­fis­ten reihen­wei­se davon über­zeugt sind, Frie­den könne (nur) mit Waffen geschaf­fen werden?

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