Braucht Nichtpreisgabe einen Preis? – Editorial

„Alles hat entwe­der einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas ande­res als Äqui­va­lent gesetzt werden; was dage­gen über allen Preis erha­ben ist, mithin kein Äqui­va­lent verstat­tet, das hat eine Würde.
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Was sich auf die allge­mei­nen mensch­li­chen Neigun­gen und Bedürf­nis­se bezieht, hat einen Markt­preis. Das aber, was die Bedin­gung ausmacht, unter der allein etwas Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht bloß einen rela­ti­ven Wert, d. i. einen Preis, sondern einen inne­ren Wert, d. i. eine Würde.“
Imma­nu­el Kant: Preis und Würde – - – 

Als Imma­nu­el Kant das schrieb, konnte er nicht wissen, dass eines Tages Bedeut­sa­mes wie das Inter­net und sozia­le Medien auf der Bild­flä­che erschei­nen. Bei der Nutzung dieser Fort­schritts­er­run­gen­schaft tritt Preis­ga­be von Würde immer deut­li­cher zutage. Welch ein Wort: preis­ge­ben. Der Duden kennt davon drei Bedeutungsebenen: 

1. vor jeman­dem, etwas nicht mehr schützen; – - – 

2. (der Not, Gefahr o. Ä.) über­las­sen; ausliefern – - – 

3. Aufge­ben, hinge­ben; auf etwas verzichten – - – 

4. Nicht mehr geheim halten; verraten – - – 

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Wer heute im Inter­net Twit­ter, Face­book, Insta­gram und vergleich­ba­re Forma­te nutzt, erfreut sich an einer kosten­lo­sen Gele­gen­heit zu kommu­ni­zie­ren, sich zu präsen­tie­ren und eigene Meinung zu verbrei­ten. Es wird nur konti­nu­ier­lich klarer, dass dieses vermeint­li­che Geschenk keines ist. Indem man die neuen Medien einsetzt, gibt man nahezu immer Priva­tes preis. Die Verwer­tungs­ma­schi­ne­rie der Daten, die man durch Teil­nah­me und Nutzung erzeugt und befeu­ert, hat unvor­stell­ba­re Ausma­ße ange­nom­men. Lange Zeit gut funk­tio­nie­ren­de Geschäfts­mo­del­le, wie Print­me­di­en oder Fern­se­hen gerie­ten durch diese Verän­de­rung in Exis­tenz­kri­sen, weil sie gegen Bezah­lung anbie­ten, was im Inter­net umsonst zu bekom­men ist. Aber im Wirt­schafts­le­ben hat alles seinen Preis. Die Beglei­chung erfolgt nur auf andere Weise. Der zu bezah­len­de Preis versteckt sich. Wer auf einem Online-Reise­por­tal einen Städ­te­trip erkun­det, wird sich anschlie­ßend wundern, dass dieses Portal einem auf der zu einem späte­ren Zeit­punkt genutz­ten Nach­rich­ten­sei­te Vorschlä­ge für Unter­künf­te in der zuvor gesuch­ten Stadt präsen­tiert. Das mag man verblüfft regis­trie­ren und hinneh­men. Pein­li­cher wird es, wenn man wegen Inkon­ti­nenz­pro­ble­men auf der Suche nach geeig­ne­ten Erwach­se­nen-Windeln war und jemand einem beim Inter­net-Zeitung­le­sen über den Rücken schaut. „Du bekommst aber mal inter­es­san­te Werbung eingeblendet!“
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Menschen sehnen sich nach Aner­ken­nung. Wir kommen nicht ohne die Gemein­schaft und das Gefühl aus, gebraucht zu werden und hängen gleich­zei­tig nicht minder am Allein­sein. Wir müssen in Anony­mi­tät abtau­chen können, wenn wir es wollen. Rück­zugs­mög­lich­kei­ten gehö­ren zur Frei­heit. Ohne Frei­räu­me, in denen man sich unge­zwun­gen seiner Selbst hinge­ben kann, fehlt dem Leben Entschei­den­des. Die schlei­chen­de Einbu­ße dieser Frei­räu­me ist eine Begleit­erschei­nung der unauf­halt­sa­men Entwick­lung der Digi­ta­li­sie­rung. Die Preis­ga­be unse­rer Anony­mi­tät wird durch Dritte in Wert gesetzt, mone­ta­ri­siert und markt­fä­hig gemacht. Wir bezah­len mit Frei­heits­ver­lust. Das Umsonst­sein einer Leis­tung, die wir gerne annah­men, erweist sich als das Tor in ein Gefäng­nis, aus dem wir schwer wieder heraus­kom­men. Uns bleibt die Frei­heit im Unfreisein.
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Eine Lösung dieses Dilem­mas könnte darin liegen, dass wir offen­bar nicht abwend­ba­re Mone­ta­ri­sie­rung immer weite­rer Berei­che der mensch­li­chen Würde (Kant) als Instru­ment nutzen und die Anony­mi­tät mit einem Preis verse­hen. Was als Kapi­tu­la­ti­on vor rendite­hung­ri­gen Markt­kräf­ten erscheint, kann aber der Impuls für grund­le­gen­des Umden­ken sein. Darf die Wahrung von Anony­mi­tät und Allein­sein etwas kosten? Lässt sich ein Preis zu dem Zwecke einfüh­ren, ihn in der Folge unnö­tig zu machen? Wir müss­ten sicher­stel­len, dass die daraus erziel­ten Einnah­men nicht Einzel­nen, sondern der Gemein­schaft zugu­te­kom­men. Wem es egal ist, öffent­lich durch­leucht­bar zu sein, hat keinen Kosten­auf­wand. Wem Anony­mi­tät ein unver­zicht­ba­rer Wert ist, der wird geneigt sein, etwas dafür zu geben.
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Der Gedan­ke mag para­dox klin­gen und zum Wider­spruch reizen. Aber es könnte der beque­me­re Weg sein, als sich auf einen eher nicht sieg­reich zu führen­den Kampf gegen die Struk­tu­ren des Gold­rauschs des 21. Jahr­hun­dert einzu­las­sen. Die nöti­gen Voraus­set­zun­gen müssen gemein­schaft­lich, das bedeu­tet in aller Regel „poli­tisch“ beschlos­sen und umge­setzt werden.
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Am Thema Geld lässt es sich beispiel­haft aufzei­gen. Das Bargeld gewähr­leis­tet Anony­mi­tät beim Bezah­len. In Umfra­gen wird ihr obers­te Prio­ri­tät beigemes­sen. Man spricht von „gepräg­ter Frei­heit“. Sons­ti­ge Zahlungs­mit­tel sind über­wie­gend digi­ta­li­siert und unter Verwal­tung von priva­ten Banken und Finanz­dienst­leis­tern. Die unkon­trol­lier­ba­re Privat­heit führen Exper­ten als Argu­ment für eine Abschaf­fung von Geld­schei­nen an, weil dadurch Steu­er­hin­ter­zie­hung und Krimi­na­li­tät Vorschub geleis­tet werde. Die Folgen der krimi­nel­len Nutzung vermin­dern oder ausmer­zen, ohne das Bargeld abschaf­fen zu müssen, wäre der Königs­weg. Mit einer Steuer als Preis für Anony­mi­tät ließe sich das errei­chen. Wie genau das funk­tio­nie­ren könnte, erfah­ren Sie in dieser Ausgabe.
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Herz­lich grüßt Ihr Andre­as Bangemann
Details zu Termi­nen -> online… 

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