Ohne Experimente zu Veränderungen – Andreas Bangemann
Die Frage wird oft gestellt: Wer liest Parteiprogramme? Keiner weiß es. Das Gerücht hält sich hartnäckig, wonach sogar die Parteimitglieder sie nicht komplett lesen. Wozu auch? Man lebt sie ja tagtäglich. Programm-Kommissionen erarbeiten teilweise jahrelang unterschiedlichste Themenkomplexe, die akkurat gebunden in Schubladen verstauben. Vereinzelt versuchen Medien, Wählerinitiativen oder Bürger, Parteien nach den Wahlen an ihre Versprechungen zu erinnern und winken dabei mit dem Zaunpfahl „Wahlprogramm“. „Politik besteht aus Kompromissen“ ist meist die Antwort der beim Handeln entgegen eigener Vorsätze erwischten Parteispitzen-Vertreter, wenn diese mit Hilfe von Koalitionen an die Tür der Macht klopfen dürfen. Wahlprogramme sind zur Mobilisierung von Parteimitgliedern und Wählern unerlässlich, aber als Messlatte für faktisches Handeln eher hinderlich.
– - –
Ginge es nach dem Willen des individuellen Wählers, gäbe es keine einzelne Partei, die seine Anliegen für die Zukunft allumfassend repräsentierten. Bei Wahlen spielen Mutmaßungen, Vertrauen und Gruppendynamik eine Rolle. Das von Gefühlen getragene Streben, zu einer erfolgreichen Gruppe zu gehören, überstrahlt das rationale Abwägen stichhaltiger Argumente. Der Trend den Wahlgang auf einzelne Personen, die Kanzlerkandidaten auszurichten und damit der Gruppenzugehörigkeit ein Gesicht zu geben, dürfte ein Indiz dafür sein, dass Wahlen vermehrt auf die Gefühlsebene abwandern. Angstmache in Bezug auf ein Thema, wie beispielsweise die Frage von Einwanderung, ein weiteres.
– - –
Angesichts der wahrzunehmenden Komplexität politischer Aufgabenstellungen auf einer Vielzahl von Gebieten, ist das eine nachvollziehbare Entwicklung. Doch damit einher geht ein Abdriften hin zu Unterhaltung, zur Schauspielerei und Werbekampagnen, bei welchen klare Konturen und vor allem gesellschaftliche Ziele verlorengehen. Politik ist mit Darstellung und dem Zwang zum Handeln nach akut eingetretenen Situationen zu einer Art chinesischen Teller-Jonglage mutiert, bei der weder Zeit noch personelle Kraft für die Weichenstellung hin zu langfristigen Perspektiven bleibt. Immer wackelt ein Teller und der Stab muss gedreht werden, um das Herunterfallen zu verhindern.
– - –
Kurzfristiger Erfolg ist ein Prinzip, das in der Wirtschaft zum Maß aller Dinge wurde, mit dem Ergebnis, dass wir uns als Gesellschaft von einem Leben in Frieden, Solidarität und Gemeinschaft entfernen. Die Sehnsucht danach ist vorhanden. Das beweisen die Entwicklungen im „Außerparlamentarischen“. Nichtregierungsorganisationen besetzen zunehmend jene Felder, die man vorzugsweise in der Politik aufgehoben sehen würde. Man könnte argumentieren, dass es sich dabei um politische Arbeit handle, aber ihre Wirkung bleibt ohne Entscheidungsmacht bescheiden.
– - –
Methoden zur Gemeinschaftsbildung, regionale Transformation, Bürgerenergie-Genossenschaften, völkerverständigende Projekte, neuartige Bildungsformen und –konzepte, Friedensarbeit, Wirtschaften unter Zurückdrängung der Dominanz des Geldstrebens, eine funktionierende Wirtschaft ohne Wachstum, Städte und Regionen, die mit eigenen, komplementären Währungen Erfahrungen sammeln, und vieles mehr. Die Liste könnte schier unendlich fortgesetzt werden. Alle diese unabhängig von Politik, einzig auf Initiative Einzelner zurückgehenden Projekte haben eines gemeinsam: sie sind notorisch unterfinanziert und können sich nur mühsam und schleppend entwickeln, weil es nebenberufliches, ehrenamtliches Engagement erfordert. Die gesellschaftliche Dynamik ist kaum auszudenken, die sich entfalten würde, wenn nur Bruchteile der Milliarden an Steuergeldern, die man für die Rettung maroder Banken aufwendete, in die basisdemokratischen Pläne und Umsetzungen flössen.
– - –
Die Welt jener Politik, über die bei Bundestagswahlen entschieden wird und das globale Wirtschaftsgeschehen spielen sich scheinbar in einem von menschlichen Sehnsüchten und Wünschen abgetrennten Universum statt. Ihre Repräsentanten besuchen uns alle vier Jahre, entfachen ein Riesenspektakel und fliegen daraufhin zu ihren Sternen zurück. – - –
mehr online…
Aktuelle Kommentare