Die Hetzjagd nach Neuem – Pat Christ
Durch Innovationen und Ästhetisierung wird die Wirtschaft weiter angetrieben
Autos fahren heute nicht mehr nur mit Benzin, sie tanken Sonnenstrom oder Wasserstoff. Verbrauch und Emissionsausstoß sanken rapide. Sensoren und Steuerungstechnik befähigen Autos, ganz alleine einzuparken. Nothalt-Systeme erkennen, wenn der Fahrer einen Herzinfarkt erleidet. Mal abgesehen von der Frage, ob das viele Autofahren gesund für Mensch und Umwelt ist, bleibt festzustellen: Es gab in den letzten Jahren sinnvolle Neuerungen. Was beileibe nicht in jeder Branche der Fall ist.
Industrielle Arbeitsplätze sind in Deutschland Mangelware. Roboter leisten, was einst Menschen taten. Doch unserem System zufolge müssen Menschen beschäftigt und müssen die immensen Mengen dessen, was Maschinen ausspucken, an die Frau und den Mann gebracht werden. Aber wie? „Innovation“ lautet das Zauberwort, das seit geraumer Weile dabei ist, den Industriellen in einen sogenannten Ästhetischen Kapitalismus zu verwandeln.
An den Zielen ändert sich nichts. Alles dreht sich ungebrochen darum, Geschwindigkeitsrekorde zu brechen und mehr und immer noch mehr zu produzieren. Dafür sorgen Technologiezentren, T‑Labs, Cluster zur Vernetzung von Wirtschaft und Wissenschaft, Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen sowie weitere Initiativen der High-Tech-Szene. Große Mitarbeiterstäbe forschen zu den Themen „Produktentwicklung“, „Produktveredelung“, „Produktverarbeitung“, „Produktanwendung“ sowie über neue Technologien zur Fertigung von Produkten. Schnellstmöglich sollen die Forschungsergebnisse in die Abläufe eines Konzerns integrieret werden und zur Entwicklung neuer Produkte führen.
Anders als bei Universitäten, wo Grundlagenforschung betrieben wird, geht es in den Labors des industrienahen Forschungssektors um die Kommerzialisierung von Wissen. Aus Ideen sollen binnen kürzester Zeit neue, tatsächlich oder vermeintlich bessere Konsumobjekte kreiert werden. Auch Bund und Länder treiben diesen Prozess voran. Bereits 2005 schlossen sie zusammen mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft und außeruniversitären Wissenschaftsorganisationen den „Pakt für Forschung und Innovation“. Hauptziel ist es, die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Wissenschaftsstandorts Deutschland zu steigern.
Immer kreativ sein müssen
Die Transformation hin zu einer ästhetischen Ökonomie, die auf permanente Innovation ausgerichtet ist, hat Konsequenzen. Hatte der Fließbandarbeiter einst keinerlei kreativen Spielraum, steht sein postindustrieller Nachfolger in den modernen Forschungslabors heute unter dem Druck, kontinuierlich kreativ sein, sich kontinuierlich originelles Neues einfallen lassen zu müssen. Fast jeder hat heute ein Visionär zu sein, von fast jedem wird Zukunftsdenken erwartet.
Nicht nur Abläufe müssen immer effizienter und flexibler werden. Auch Menschen sind diesem Zwang ausgesetzt. Damit treten immer mehr ganz normale Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer quasi in die Fußstapfen von Künstlern – die in früheren Zeiten nahezu ausschließlich diejenigen waren, die (ästhetisch) Neues kreierten. Während es Handwerkern einst darum ging, ihre Meisterschaft über die Jahre und Jahrzehnte zu vollenden.
Innovation und Selbstveralterung
„Für die gesamte Moderne, insbesondere für die kapitalistische Ökonomie, ist es charakteristisch, systematisch ein ’soziales Régime des Neuen’ zu entwickeln“, bestätigt Professor Andreas Reckwitz gegenüber der HUMANEN WIRTSCHAFT. Schon lange wird dem Kulturwissenschaftler von der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt zufolge auf Innovation und „Selbstveralterung“ gesetzt: „In dieser Hinsicht radikalisiert sich die Spätmoderne noch einmal.“ Die Ökonomie bringt heute nicht mehr nur das technisch Neue hervor: „Sondern ästhetisch-kulturell neuartige Güter und Ereignisse.“ Die Märkte für solche „kulturellen Güter“ seien jedoch besonders hart umkämpft: „Darum stacheln sie die Organisationen zur ‚permanenten Innovation’ an.“
Zunächst einmal widerspricht dieser Zyklus des ästhetisch-kulturell Neuen in der Ökonomie der Idee eines nachhaltigen Wirtschaftens, gibt Recknitz zu: „Es wird keine Rücksicht auf die Vernutzung natürlicher oder psychischer Ressourcen genommen.“ Als Beispiel führt er die globale Expansion des Massentourismus an. Doch es gebe auch Gegentendenzen, so der Mitherausgeber des im Juni erschienenen Taschenbuchs „Ästhetik und Gesellschaft“. Das Verlangen nach langlebigen Gütern, die dann umso authentischer erscheinen, sei heute sehr ausgeprägt – ebenso wie „ethical consumption“, also eine Ernährungsweise, die ethische Aspekte berücksichtigt.
Radikale Orientierung der Moderne am Neuen ist für Recknitz nicht unproblematisch: „Sie geht einher mit einer Abwertung der Wiederholung des Gleichen, der Abwertung von Routinen und Traditionen.“ Das globale Aufkommen von religiösen Fundamentalismen lässt sich nach seiner Beobachtung in diesem Zusammenhang als ein Symptom lesen. „Hier versucht man, sehr brutal der ‚permanenten Innovation’ des Westens eine scheinbar zeitenthobene religiöse Orthodoxie entgegenzusetzen“, so der Kulturwissenschaftler.
Tricks der Pharmaindustrie
Grundsätzlich gilt, dass Neues nicht per se gut oder schlecht ist. So sind neue Medikamente in vielen Fällen segensreich. Doch gerade hier gibt es extrem bedenkliche Entwicklungen. Arzneimittelinnovatoren haben sehr oft nicht in erster Linie den Patienten, sondern ausschließlich den Umsatz im Blick.
Hier versucht das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), steuernd einzugreifen. Zusammen mit anderen Einrichtungen prüft es Qualität, Wirksamkeit, Unbedenklichkeit und Umweltverträglichkeit von neuen Arzneimitteln. In jüngster Zeit sieht sich das Bundesinstitut laut BfArM-Präsident Karl Broich allerdings mit einem wachsenden Druck auf Zulassungsentscheidungen konfrontiert. Pharmaunternehmen dauert es schlicht zu lange, bis ein Medikament zugelassen ist.
Um die Zeit zu verkürzen, wird Broich zufolge ein Trick angewandt: Neue Arzneimittel kommen zunächst nur für eine sehr kleine Indikation, dafür sehr früh auf den Markt. Nach der zentralen Marktzulassung auf EU-Ebene werden dann von den Herstellern Daten nachgefordert. Im Anschluss können durch weitere Studien und Prüfungen die Wirkstoff-Indikationen erweitert werden. Aktuell sind bei der EMA laut Broich 34 Arzneimittel für solch eine „adaptive Zulassung“ vorgeschlagen, zehn davon hätten bereits das Okay der Behörden.
Autos fahren heute nicht mehr nur mit Benzin, sie tanken Sonnenstrom oder Wasserstoff. Verbrauch und Emissionsausstoß sanken rapide. Sensoren und Steuerungstechnik befähigen Autos, ganz alleine einzuparken. Nothalt-Systeme erkennen, wenn der Fahrer einen Herzinfarkt erleidet. Mal abgesehen von der Frage, ob das viele Autofahren gesund für Mensch und Umwelt ist, bleibt festzustellen: Es gab in den letzten Jahren sinnvolle Neuerungen. Was beileibe nicht in jeder Branche der Fall ist.
Industrielle Arbeitsplätze sind in Deutschland Mangelware. Roboter leisten, was einst Menschen taten. Doch unserem System zufolge müssen Menschen beschäftigt und müssen die immensen Mengen dessen, was Maschinen ausspucken, an die Frau und den Mann gebracht werden. Aber wie? „Innovation“ lautet das Zauberwort, das seit geraumer Weile dabei ist, den Industriellen in einen sogenannten Ästhetischen Kapitalismus zu verwandeln.
An den Zielen ändert sich nichts. Alles dreht sich ungebrochen darum, Geschwindigkeitsrekorde zu brechen und mehr und immer noch mehr zu produzieren. Dafür sorgen Technologiezentren, T‑Labs, Cluster zur Vernetzung von Wirtschaft und Wissenschaft, Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen sowie weitere Initiativen der High-Tech-Szene. Große Mitarbeiterstäbe forschen zu den Themen „Produktentwicklung“, „Produktveredelung“, „Produktverarbeitung“, „Produktanwendung“ sowie über neue Technologien zur Fertigung von Produkten. Schnellstmöglich sollen die Forschungsergebnisse in die Abläufe eines Konzerns integrieret werden und zur Entwicklung neuer Produkte führen.
Anders als bei Universitäten, wo Grundlagenforschung betrieben wird, geht es in den Labors des industrienahen Forschungssektors um die Kommerzialisierung von Wissen. Aus Ideen sollen binnen kürzester Zeit neue, tatsächlich oder vermeintlich bessere Konsumobjekte kreiert werden. Auch Bund und Länder treiben diesen Prozess voran. Bereits 2005 schlossen sie zusammen mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft und außeruniversitären Wissenschaftsorganisationen den „Pakt für Forschung und Innovation“. Hauptziel ist es, die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Wissenschaftsstandorts Deutschland zu steigern.
Immer kreativ sein müssen
Die Transformation hin zu einer ästhetischen Ökonomie, die auf permanente Innovation ausgerichtet ist, hat Konsequenzen. Hatte der Fließbandarbeiter einst keinerlei kreativen Spielraum, steht sein postindustrieller Nachfolger in den modernen Forschungslabors heute unter dem Druck, kontinuierlich kreativ sein, sich kontinuierlich originelles Neues einfallen lassen zu müssen. Fast jeder hat heute ein Visionär zu sein, von fast jedem wird Zukunftsdenken erwartet.
Nicht nur Abläufe müssen immer effizienter und flexibler werden. Auch Menschen sind diesem Zwang ausgesetzt. Damit treten immer mehr ganz normale Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer quasi in die Fußstapfen von Künstlern – die in früheren Zeiten nahezu ausschließlich diejenigen waren, die (ästhetisch) Neues kreierten. Während es Handwerkern einst darum ging, ihre Meisterschaft über die Jahre und Jahrzehnte zu vollenden.
Innovation und Selbstveralterung
„Für die gesamte Moderne, insbesondere für die kapitalistische Ökonomie, ist es charakteristisch, systematisch ein ’soziales Régime des Neuen’ zu entwickeln“, bestätigt Professor Andreas Reckwitz gegenüber der HUMANEN WIRTSCHAFT. Schon lange wird dem Kulturwissenschaftler von der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt zufolge auf Innovation und „Selbstveralterung“ gesetzt: „In dieser Hinsicht radikalisiert sich die Spätmoderne noch einmal.“ Die Ökonomie bringt heute nicht mehr nur das technisch Neue hervor: „Sondern ästhetisch-kulturell neuartige Güter und Ereignisse.“ Die Märkte für solche „kulturellen Güter“ seien jedoch besonders hart umkämpft: „Darum stacheln sie die Organisationen zur ‚permanenten Innovation’ an.“
Zunächst einmal widerspricht dieser Zyklus des ästhetisch-kulturell Neuen in der Ökonomie der Idee eines nachhaltigen Wirtschaftens, gibt Recknitz zu: „Es wird keine Rücksicht auf die Vernutzung natürlicher oder psychischer Ressourcen genommen.“ Als Beispiel führt er die globale Expansion des Massentourismus an. Doch es gebe auch Gegentendenzen, so der Mitherausgeber des im Juni erschienenen Taschenbuchs „Ästhetik und Gesellschaft“. Das Verlangen nach langlebigen Gütern, die dann umso authentischer erscheinen, sei heute sehr ausgeprägt – ebenso wie „ethical consumption“, also eine Ernährungsweise, die ethische Aspekte berücksichtigt.
Radikale Orientierung der Moderne am Neuen ist für Recknitz nicht unproblematisch: „Sie geht einher mit einer Abwertung der Wiederholung des Gleichen, der Abwertung von Routinen und Traditionen.“ Das globale Aufkommen von religiösen Fundamentalismen lässt sich nach seiner Beobachtung in diesem Zusammenhang als ein Symptom lesen. „Hier versucht man, sehr brutal der ‚permanenten Innovation’ des Westens eine scheinbar zeitenthobene religiöse Orthodoxie entgegenzusetzen“, so der Kulturwissenschaftler.
Tricks der Pharmaindustrie
Grundsätzlich gilt, dass Neues nicht per se gut oder schlecht ist. So sind neue Medikamente in vielen Fällen segensreich. Doch gerade hier gibt es extrem bedenkliche Entwicklungen. Arzneimittelinnovatoren haben sehr oft nicht in erster Linie den Patienten, sondern ausschließlich den Umsatz im Blick.
Hier versucht das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), steuernd einzugreifen. Zusammen mit anderen Einrichtungen prüft es Qualität, Wirksamkeit, Unbedenklichkeit und Umweltverträglichkeit von neuen Arzneimitteln. In jüngster Zeit sieht sich das Bundesinstitut laut BfArM-Präsident Karl Broich allerdings mit einem wachsenden Druck auf Zulassungsentscheidungen konfrontiert. Pharmaunternehmen dauert es schlicht zu lange, bis ein Medikament zugelassen ist.
Um die Zeit zu verkürzen, wird Broich zufolge ein Trick angewandt: Neue Arzneimittel kommen zunächst nur für eine sehr kleine Indikation, dafür sehr früh auf den Markt. Nach der zentralen Marktzulassung auf EU-Ebene werden dann von den Herstellern Daten nachgefordert. Im Anschluss können durch weitere Studien und Prüfungen die Wirkstoff-Indikationen erweitert werden. Aktuell sind bei der EMA laut Broich 34 Arzneimittel für solch eine „adaptive Zulassung“ vorgeschlagen, zehn davon hätten bereits das Okay der Behörden.
Aktuelle Kommentare