Wissen und Gewissen – Im Schattenreich der Überwachung – Ilija Trojanow
Die Umsetzung erfolgte an einem sonnigen Frühlingstag. Zu diesem Zweck mussten alle Bewohner aus dem Haus entfernt werden. Der Chef meines Onkels wurde angewiesen, diesen auf Dienstreise zu schicken (ein Agent hatte zu überprüfen, ob er in den Zug stieg, ein anderer, dass er am Zielort dem Zug entstieg). Der Hauswart wurde eingeweiht und damit beauftragt, eine Liste der Anwohner zu erstellen: insgesamt 17 Namen. Meine Tante und Großmutter wurden ins Innenministerium vorgeladen, wo man sie sehr lange warten ließ, die Nachbarn einen Stock unter uns namens Tscherwenowi (übersetzt: „die Roten“) wurden entsprechend ihrer systemkonformen Haltung zu ausführlichen Gesprächen ins örtliche Volksfrontbüro gerufen. Die Rentnerin Stambolowa wurde in einen Rentnerklub eingeladen, wo sie ein Mitarbeiter der Staatssicherheit zu beobachten hatte, sollte sie sich wider Erwarten verfrüht auf den Heimweg machen. So wurde ein jeder weggelockt, damit die Einsatzgruppe, bestehend aus fünf Mitarbeitern der IV. Hauptabteilung, zuständig für die Montage der Mikrofone, in die Wohnung eindringen konnte, ihnen zur Seite zwei weitere Agenten, betraut mit der Aufgabe, den Kontakt mit der Einsatzzentrale aufrechtzuerhalten, während vor der Haustür eine Schutz- und Wachgruppe aus drei Mitarbeitern, in Funkkontakt mit allen anderen Einheiten stand, um die notwendigen Maßnahmen absprechen zu können, sollten unerwartete Gäste auftauchen. Gleichzeitig wurde die Dienststelle der Staatssicherheit in der Provinzstadt Blagoewgrad beauftragt, die Eltern meines Onkels unter Beobachtung zu stellen, sollten sie zu einem überraschenden Besuch nach Sofia aufbrechen. Schließlich wurde in Auftrag gegeben, das „Aggregat zur Lärmverursachung“ laufen zu lassen, bis zum erfolgreichen Abschluss der Installierung. An dieser Operation waren insgesamt 24 Mitarbeiter der DeSe beteiligt.
Heute wäre der nötige Aufwand im Vergleich läppisch gering, wenn die betreffenden Objekte der Beobachtung Handys sowie Computer samt Internetanschluss nutzen. Einige Tastaturbefehle, einige Klicks – die sechsköpfige Großfamilie wäre kommunikativ durchleuchtet. Wir müssen nicht von einem hypothetischen Fall ausgehen, es geschieht, heute, in diesem Augenblick, in vielen Wohnungen auf der Welt. Aber der altbackene Übergriff erschreckt die meisten von uns vermutlich mehr, diese klassische Mischung aus Täuschung, Nötigung und staatlicher Konspiration.
Auf den Türen der Wiener U‑Bahn sind zwei Aufkleber zu sehen, ein grüner, der eine Überwachungskamera abbildet, und ein blauer, der einen Kinderwagen zeigt. Die Aussage ist in meiner Lesart klar und einfach: Wir weisen Sie daraufhin, dass Sie von der Wiege bis zur Bahre unter Beobachtung stehen. So muss es jeder verstehen, der die medialen Enthüllungen und Diskussionen der letzten Monate auch nur ansatzweise verfolgt hat. Aber der Schwerpunkt des öffentlichen Diskurses hat sich in dieser Zeit auf erstaunliche Weise verschoben. Die Existenz der allumfassenden Massenüberwachung wird nicht mehr bestritten, wie noch vor wenigen Jahren, als Kritiker des Buches „Angriff auf die Freiheit. Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau bürgerlicher Rechte“ meiner Koautorin Juli Zeh und mir Übertreibung und Hysterie vorwarfen. Inzwischen wird das Ausmaß des Datenraffens nicht in Abrede gestellt, sondern vielmehr eifrig darüber diskutiert, ob eine derartige Generalkontrolle Schaden anrichtet oder nicht. Dabei wird meistens nach unschuldigen Opfern gesucht, der gesamtgesellschaftliche Schaden hingegen außer Acht gelassen. Manche verneinen jegliche Gefahr für die Rechte des Bürgers, weil die Daten zwar angehäuft, selten aber durchforstet oder gar bearbeitet werden. Andere behaupten, es könne heutzutage und in Zukunft angesichts der technischen Entwicklung ohnehin keine Privatsphäre mehr geben und dritte wiederum bezweifeln grundsätzlich, dass Überwachung per se eine repressive Maßnahme sei.
Nichts aus der Geschichte lernen
Um Aufschluss über die möglichen Gefährdungen für den Einzelnen wie auch für die ganze Gesellschaft zu erhalten, könnten wir doch die inzwischen gut dokumentierten Überwachungsstrukturen in den Staaten des ehemaligen Warschauer Pakts heranziehen, die in manch einer Sonntagsrede als beispielhaft für Unrecht und massive Beschneidung individueller Freiheiten vorgeführt werden. Es scheint recht und billig zu sein, von der Vergangenheit lernen zu wollen, wenn ihre Schrecken dem staatlichen Ordnungswillen hierzulande diametral entgegenstehen (Stichwort: Holocaust oder Gulag). Es wäre sinnvoller, gerade jene vergangenen Grauen zu betrachten, die eine strukturelle Nähe zu heutigen Entwicklungen aufweisen. Gerade dies wird verhindert mit der schnell aus der Hüfte geschossenen Abwiegelung, man könne doch Überwachung heute nicht mit der Überwachung damals, die Stasi nicht mit der NSA vergleichen, aufgrund der demokratischen Verfasstheit unserer Gesellschaft. Das erweist sich bei näherem Hinsehen als unüberlegter, argumentativer Reflex. Zum einen wissen wir, wie schlecht es um die demokratische Kontrolle der Geheimdienste bestellt ist (selbst die Mitglieder des Parlamentarischen Kontrollgremiums unterliegen oft einem Informationsblackout, begründet mit dem Abrakadabra behördlicher Vertuschung, der „Nationalen Sicherheit“). Zum anderen ist schwer zu verstehen, wieso ein System, das von der Überlegenheit und fortwährenden Einhaltung seiner Werte derart überzeugt ist, einen solchen Vergleich, der ja zu seinen Gunsten ausfallen müsste, vermeiden will. Das Gegenteil wäre logisch, man müsste den Vergleich geradezu forcieren, um den Unterschied zwischen dem Unrecht der Stasi-Tätigkeit und dem Recht der heutigen Geheimdienstarbeit aufzuzeigen (obwohl die technischen Möglichkeiten viel größer sind). Wer jeden Vergleich im Keim zu ersticken versucht, der möchte nicht, dass wir Lehren aus der Geschichte ziehen.
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