Wie retten wir die Demokratie? – Karl-Martin Hentschel

Warum die AfD gewählt wird und wie wir der Wut mit einer posi­ti­ven Agenda begeg­nen können.
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Dr. Holger Stie­nen aus Wentorf bei Lübeck, Ex-Refe­rent der AfD-Bundes­tags­frak­ti­on, amtie­ren­der Vorsit­zen­der der AfD-Kreis­tags­frak­ti­on im Kreis Herzog­tum-Lauen­burg, verkün­de­te auf Face­book: „Wir brau­chen mal ein paar Jahre einen tota­li­tä­ren Staat alter Prägung, um mit dem Gesocks aufzuräumen (…).“
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1. Das Para­dox der AfD-Wähler und das Problem der Demokratie
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Fach­leu­te spre­chen von einem Para­dox: Die AfD hat ein Programm, das Reiche stark begüns­tigt und dessen Umset­zung für arme Menschen schlim­me Auswir­kun­gen hätte. Exem­pla­risch dafür sind die Forde­run­gen nach Strei­chung von Sozi­al­leis­tun­gen, gegen Mieter­schutz, gegen Sozi­al­woh­nun­gen, für Steu­er­sen­kun­gen für Reiche und Groß­kon­zer­ne wie die Abschaf­fung der Erbschafts­steu­er und des Soli­da­ri­täts­zu­schla­ges, beides Abga­ben, die über­wie­gend nur von dem reichs­ten ein Prozent der Gesell­schaft bezahlt werden. Noch absur­der ist es, dass sie den Bauern die Hälfte ihres Einkom­mens wegneh­men wollen – durch Strei­chung der EU-Subven­tio­nen. Die Partei will eine Abschot­tung Deutsch­lands vom Welt­markt und würde damit Millio­nen von Arbeits­plät­zen zerstö­ren. Auch will die AfD ausge­rech­net den neuen Bundes­län­dern, wo sie am meis­ten gewählt wird, die Einnah­men radi­kal kürzen, indem der Länder­fi­nanz­aus­gleich redu­ziert wird. Und natür­lich lehnt die AfD jegli­chen Klima­schutz ab – auch das 49€-Ticket oder Radwegeausbau.
Fazit: Ihr Programm rich­tet sich gegen sozial Schwa­che – insbe­son­de­re gegen den länd­li­chen Raum und beson­ders gegen die neuen Bundes­län­der – und bevor­teilt einsei­tig reiche Menschen, denen die Umwelt egal ist.
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Aus diesem Grund ist es verwun­der­lich, dass Menschen mit gerin­ge­ren Einkom­men und aus den neuen Bundes­län­dern deut­lich über­pro­por­tio­nal AfD wählen. Wer etwas daran ändern will, muss also verste­hen, was die Ursa­chen sind.
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2. Frem­den­feind­lich­keit hat wenig mit Einwan­de­rung zu tun
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Erklärt wird das Para­dox meist damit, dass die AfD-Wähler*innen gegen Einwan­de­rung sind und deshalb die ande­ren Themen keine Rolle spie­len. Aber stimmt das so?
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Ja – auf den ersten Blick stimmt das: Die Ableh­nung von Migra­ti­on geht offen­sicht­lich einher mit Frem­den­feind­lich­keit. Sie ist meist verbun­den mit der Suche nach einem star­ken Führer, der bewusst chau­vi­nis­tisch auftritt: Mit Ketten­sä­ge wie Präsi­dent Milei in Argen­ti­ni­en, mit sexis­ti­schen Sprü­chen wie Trump oder mit nack­tem Ober­kör­per auf dem Pferd in der Natur wie Putin. Evolu­ti­ons­bio­lo­gisch kann man dies auf das Revier­ver­hal­ten zurück­füh­ren. Lebe­we­sen wie der Mensch – aber auch viele andere Säuge­tie­re, zeigen in einer siche­ren Lage mit ausrei­chend Nahrung und einer guten Versor­gung der ande­ren Grund­be­dürf­nis­se wenig Revier­ver­hal­ten und verhal­ten sich oft ausge­spro­chen sozial und libe­ral. Mate­ri­el­le und physi­sche Unsi­cher­heit und Angst brin­gen dage­gen regel­mä­ßig Revier­ver­hal­ten hervor. Daher sind reiche Gesell­schaf­ten meist tole­ran­ter als ärmere.
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Gut fest­ma­chen lässt sich dies an der These, dass bestimm­te Reli­gio­nen wie der Islam into­le­ran­ter seien als zum Beispiel das Chris­ten­tum. Sie ist offen­sicht­lich falsch. In den Jahr­hun­der­ten vor der Indus­tria­li­sie­rung, als der Orient noch mit Damas­kus und Bagdad als Zentren der alten Welt und der großen Handels­stra­ßen sehr reich war, während Europa eine bettel­ar­me und wegen der dich­ten Wälder und vielen Sümpfe unweg­sa­me Gegend am Rande der Welt war, war der Islam sehr welt­of­fen und tole­rant. Das Chris­ten­tum dage­gen war sektie­re­risch und into­le­rant. Der schlimms­te Krieg aller Zeiten in Deutsch­land war der Drei­ßig­jäh­ri­ge Krieg, ein Reli­gi­ons­krieg in dessen Verlauf ein Drit­tel der Bevöl­ke­rung im Deut­schen Reich umkam – in eini­gen Provin­zen sogar zwei Drittel.
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In der Samm­ler-und-Jäger­ge­sell­schaft diente das Revier­ver­hal­ten der Vertei­di­gung der Ressour­cen der Gruppe oder des Stam­mes gegen Eindring­li­che, die auf Grund der Verknap­pung der Ressour­cen (Dürre, Wasser­man­gel, Hungers­not usw.) in benach­bar­te Terri­to­ri­en eindran­gen, um zu über­le­ben. Später nach der Staa­ten­bil­dung wurden nicht nur äußere Feinde, sondern auch Mitmen­schen, die anders waren, zu Fein­den: Andere Reli­gio­nen wie die Katho­li­ken oder die Juden, anders ausse­hen­de wie die Roma oder auch sogar fiktiv konstru­ier­te Feinde wie die Hexen – so in den Jahr­zehn­ten nach dem Drei­ßig­jäh­ri­gen Krieg. In den USA rich­te­te sich der Chau­vi­nis­mus gegen India­ner, Schwar­ze, Iren, Italie­ner, Juden, Chine­sen, Japa­ner, Mexi­ka­ner und schließ­lich gegen die „Lati­nos“ überhaupt.
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Ganz wich­tig ist es daher, fest­zu­stel­len, dass dieser Ausgren­zungs­me­cha­nis­mus nur indi­rekt mit Einwan­de­rung zu tun hat, wie man es heute in Europa und der USA häufig vermu­tet. Denn die Wahl recht­schau­vi­nis­ti­scher Poli­ti­ker findet welt­weit statt – so in Indien, Brasi­li­en, in Argen­ti­ni­en, in vielen arabi­schen Staa­ten, in Russ­land aber auch in Ungarn, Polen und Itali­en. Die meis­ten davon sind aber Staa­ten, in denen die Menschen eher wegzie­hen als einwan­dern. Migran­ten sind also nicht Ursa­che, wohl aber eine Projek­ti­ons­flä­che für die Fremdenfeindlichkeit.
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3. Vertrau­ens­ver­lust in die Demo­kra­tie und die Frage der Ungleichheit
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Entschei­dend ist aller­dings, dass das Vertrau­en in die Demo­kra­tie im neuen Jahr­tau­send erheb­lich abge­nom­men hat. Wurden im Jahr 2000 noch die Hälfte der Mensch­heit mehr oder weni­ger demo­kra­tisch regiert, so kommen die entspre­chen­den Unter­su­chun­gen heute nur noch auf 30 Prozent. Ein rapi­der und erschre­cken­der Rück­gang der Demokratien.
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Eine Umfra­ge des NDR im Okto­ber 2023 hat erge­ben, dass 54 %, also nur noch gut die Hälfte der Bürger damit zufrie­den ist, wie in Deutsch­land die Demo­kra­tie funk­tio­niert. In Meck­len­burg-Vorpom­mern sind es aber nur noch 32 Prozent. Dabei halten aber grund­sätz­lich noch drei Vier­tel (77 %) die Demo­kra­tie für die beste Staatsform.
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Schaut man aber genau­er hin, dann hängt die Antwort vor allem von der sozia­len Lage der Menschen ab. 47 % schät­zen ihre wirt­schaft­li­che Lage als gut oder sehr gut ein. Von diesen Menschen sind zwei Drit­tel (70 %) mit der Art und Weise zufrie­den, wie die Demo­kra­tie funk­tio­niert. Dage­gen finden 16 % ihre Lage als schlecht oder schlecht. Und bei diesen Menschen ist es genau umge­kehrt. Zwei Drit­tel von ihnen (70 %) sagen, dass die Demo­kra­tie nicht gut funk­tio­niert. Das ist ein extrem signi­fi­kan­ter Unter­schied. Wohl­ha­ben­de finden Demo­kra­tie gut, Arme zwei­feln an ihr. Man kann es auch so ausdrücken:
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4. Die „Verlus­tes­ka­la­ti­on“
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Dass die Menschen in Argen­ti­ni­en an ihrer Demo­kra­tie zwei­feln, kann man ange­sichts der Krise mit Hyper­in­fla­ti­on und hoher Arbeits­lo­sig­keit gut verste­hen. Aber warum zwei­feln Menschen in Deutsch­land? Sind wir nicht eines der best­re­gier­ten Länder der Welt? Wir haben gut zu essen, noch nie wurden die Menschen so alt und wir haben zuletzt pro Kopf 10-mal so viel expor­tiert als China und immer­hin drei­mal so viel wie die USA und unse­rer frühe­rer Angst­kon­kur­rent Japan. Was ist also los, dass die Menschen so unzu­frie­den sind?
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Wenn wir um so glück­li­cher würden, je mehr Wohl­stand wir haben, dann wäre das nicht erklär­bar. Aber so ist es nicht. Die Menschen verglei­chen sich vor allem erstens mit ihren Nach­barn und zwei­tens damit, wie es gestern war. Nach dem Krieg ging es 40 Jahre berg­auf – das war das golde­ne Zeit­al­ter des Kapi­ta­lis­mus, in Deutsch­land sprach man vom Wirt­schafts­wun­der. Zum einen stieg der Wohl­stand und zum ersten Mal fühlte sich die Masse der Arbei­ter als „Bürger“. Zum ande­ren aber nahm in allen west­li­chen Demo­kra­tien die Ungleich­heit ab. Ganz beson­ders in den USA mit einem Spit­zen­steu­er­satz, der über 30 Jahre lang über 90 % lag. Wer mehr als 1,5 Milli­on Dollar nach heuti­gem Geld verdien­te, muss 90 % davon abge­ben. Heute unvor­stell­bar. Auch in Deutsch­land lagen die Steu­er­sät­ze Anfang der 50er Jahre so hoch und dazu kam der Lasten­aus­gleich – alle Reichen muss­ten die Hälfte ihres Vermö­gens abge­ben! Eben­falls heute unvorstellbar.
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Im Jahre 1980 war in Deutsch­land so eine Mittel­schicht von 40 % der Bevöl­ke­rung entstan­den, der ein Drit­tel des gesam­ten Vermö­gens gehör­te – haupt­säch­lich ein Teil ihrer Häuser. Und auch die Fach­ar­bei­ter und die Ange­stell­ten ohne Haus fühl­ten sich nun eher als Mittel­schicht. Sozio­lo­gen bezeich­nen das als Zwie­bel­ge­sell­schaft – eine breite Mitte mit einer klei­nen Spitze nach unten und einer klei­nen Spitze nach oben. Man unter­schied keine Klas­sen mehr, sondern nur noch Milieus.
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Aber dann kam die Ölkri­se, der Neoli­be­ra­lis­mus, und schließ­lich die große Finanz­kri­se. In den letz­ten 30 Jahren lande­te das zusätz­li­che Vermö­gen über­wie­gend bei einer kleine Schicht von eini­gen Tausend Multi­mil­lio­nä­ren und etwa 200 Milli­ar­därs­fa­mi­li­en. Und die meis­ten dieser Fami­li­en haben diesen Reich­tum geerbt – mehr als die Hälfte gehör­te schon im Kaiser­reich zu den oberen ein Prozent, ein Vier­tel erwarb es während des Naziregimes.
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Aber die Menschen fühlen sich nicht nur unge­recht behan­delt. Es kam in den letz­ten Jahren einfach zu viel auf sie zu. Sozio­lo­gen spre­chen von einer „Verlust-Eska­la­ti­on“. Die große Finanz­kri­se und die anschlie­ßen­de Euro-Krise erschüt­ter­ten das Vertrau­en in die Sicher­heit der Wirt­schaft. Immer lauter läuten nun die Alarm­glo­cken der Klima­wis­sen­schaft­ler. Dann kam auch noch die Corona-Pande­mie dazu. Dann zuletzt noch der Ukrai­ne-Krieg und die Gaskri­se. Nur noch 9 % der Menschen glau­ben heute noch, dass es den Kindern einmal besser gehen wird als uns.
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5. Die Menschen erwar­ten „Führung“
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In so einer Situa­ti­on entsteht ein funda­men­ta­les Bedürf­nis nach Hand­lungs­fä­hig­keit und Kontrol­le. In Krisen­si­tua­ti­on suchen die Menschen eine Auto­ri­tät. Wenn sie die nicht finden, glau­ben sie leicht Verschwö­rungs­my­then. Streit, Kritik und Diskus­sio­nen in der Demo­kra­tie um die besse­re Poli­tik signa­li­sie­ren dann für viele Menschen dann nur noch Schwä­che der Führung. Nicht jede Auto­ri­tät ist verwerf­lich. Die neue Auto­ri­tät kann links und demo­kra­tisch sein wie Roose­velt, der in den USA das Sozi­al­sys­tem durch­setz­te. Es kann auch ein Wahn­sin­ni­ger sein wie Hitler, der das Land ins Verder­ben führte. Schon in den alten „demo­kra­ti­schen“ Stadt­staa­ten im alten Grie­chen­land wurde, wenn die herr­schen­de Kauf­mann­solig­ar­chie es zu weit trieb, also zu viele Einwoh­ner verarm­ten, manch­mal ein Tyrann gekürt, der manch­mal sogar das Umver­tei­len des Reich­tums verspro­chen hatte.
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