Welchen Tod würden Sie lieber sterben? – Editorial
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Nach Erscheinen unserer letzten Ausgabe erhielten wir Nachrichten und Briefe von Lesern, die bemängeln, wie die Artikelzusammenstellung zum Thema Coronavirus erfolgte. Ihnen fehle die kritische Sichtweise, die untersucht, ob die drastischen Lockdown-Maßnahmen überhaupt hätten sein müssen.
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Ein Argument taucht immer wieder auf: die Auswirkungen der Wirtschaftskrise drohen weit mehr menschliche Existenzen zu zerstören als der neuartige Virus. Professor Christian Kreiß weist nachdrücklich auf die langfristigen Folgen, wie Arbeitslosigkeit, Hunger, Mietausfällen und Wohnungsnot hin. Mit Effekten für die Gesundheit bis hin zu Todesfällen. Das Fatale an dieser Gegenüberstellung: Es führt zum Abwägen und Einschätzen von Risiken. Ist es wahrscheinlicher am Virus zu erkranken oder gar zu sterben oder durch die wirtschaftlichen Folgen des Lockdowns?
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Diese Frage spaltet die Gesellschaft. Intensive Emotionen und verbissen verteidigte (Vor)urteile stehen sich unversöhnlich gegenüber.
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Doch wie geht man damit in einem Medium um?
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Wer, wie ich, Beiträge für eine neue Zeitschriftenausgabe kombiniert, trifft Entscheidungen. Dabei spielt – ob bewusst oder unbewusst – die eigene Haltung eine bestimmende Rolle. Davon will ich mich nicht freisprechen.
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Die scheinbar in ihrer Meinungsfreiheit Unterdrückten schreien einen förmlich an, sobald man seinen Internetbrowser öffnet und seine Timeline in den Sozialen Netzwerken überfliegt. Als Schreien empfinde ich es, weil die genutzte Ausdrucksweise oft aggressiv ist und eher rabiate als gewaltfreie Kommunikation genannt werden muss. Mir brachte man bei: „Wer schreit hat Unrecht, denn mit guten Argumenten braucht es kein Geschrei.“ Es scheint zunehmend gleichgültig zu werden, in welcher Form etwas vorgetragen wird, Hauptsache spezielle Inhalte und Positionen finden Erwähnung. Das Internet bietet die Freiheit, alles zu sagen. Aber vielen kommt es in Wahrheit darauf nicht an, wenn sie von eingeschränkter Meinungsfreiheit reden. Sie hätten vielmehr gerne die Gewissheit, dass die Massen ihnen Aufmerksamkeit schenken. Oder am besten: Ihre Meinung vollumfänglich teilen. Die früher „Massenmedien“ genannten sind längst keine mehr. Wer schaut im Zeitalter des Streamens überhaupt noch analoges Fernsehen oder blättert in einer Tageszeitung?
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Man kann ein Thema von hoher gesellschaftlicher Relevanz kontrovers diskutieren. Das geschieht im Falle des Coronavirus und der damit verbundenen politischen Maßnahmen auch in erheblichem Maße. Der Standpunkt eines Professors, der die Pandemie für eine „normale Grippe“ hält und dafür Argumente findet, braucht nicht in einer mit schwindenden Zuschauerzahlen kämpfenden Talkshow zu hören sein, um wahrgenommen werden zu können. Er begegnet einem mit nervtötender Penetranz.
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Ich frage mich, wie es in unserem Land aussähe, wenn die auf Demos auftretenden demaskierten Freiheitskämpfer dieser Tage die politische Macht hätten, ihren Willen durchzusetzen? Könnte man auf eine Strategie hoffen, bei der man seine Familie und Mitmenschen noch wirksam schützen könnte? Sei es in Bezug auf die Gesundheit oder auf die Wirtschaft?
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Es ist ja nicht so, dass es kein Anschauungsmaterial für alternative Sichtweisen aus Ländern gäbe, in denen Andersdenkende das Sagen haben, siehe die USA oder Brasilien. Zu welchem Preis wird dort die Freiheit ausgelebt? Die Pandemie macht deutlich, was oft wiederholt, aber selten verstanden wird: Alles hängt mit allem zusammen.
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Ich stehe vielem kritisch gegenüber, was die Politik bei uns und andernorts auf der Welt in Bezug auf die Krise unternimmt. Hinsichtlich der Verordnungen ist keine einheitliche Strategie erkennbar, die angemessen mit der pandemischen Gefahr umgeht. Steuermittel werden in fragwürdigem Aktivismus verplempert, eher getrieben von Lobbykräften aus unterschiedlichsten Bereichen, als von vernünftiger Zukunftsplanung unter Berücksichtigung der existierenden Gefahren. Der Coronavirus wurde politisiert und emotionalisiert und damit eines nüchternen und konstruktiven Umgangs entzogen.
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Ich mache mir weniger Sorgen wegen der weiteren Entwicklung der Pandemie als viel mehr hinsichtlich der Spaltung der Gesellschaft. Der Politisierung des Themas gebe ich daran erhebliche Mitschuld. Zu den bereits immer vorhandenen Unterschieden wie Arm und Reich, Gut und Böse, Schwarz und Weiß, Mann und Frau, gesellen sich jetzt auch noch aggressiv vorgetragene Standpunkte zur Einschätzung eines neuartigen Virus. Man fühlt sich zu einer Positionierung genötigt. Für oder gegen. Links oder Rechts. Kaum jemand scheint noch differenzieren zu wollen oder zu können. Ganz zu schweigen von einer dialektischen Herangehensweise, wie es uns der vor 250 Jahren geborene Hegel ausformuliert hat. Demut und Zurückhaltung, Akzeptanz und Solidarität, selbst dann, wenn es in Einzelfragen grundlegend andere Einstellungen gibt, scheinen nicht mehr machbar. Demut nicht interpretiert als willenlos unterwürfige Ergebenheit, sondern als respektvolle Selbstbeherrschung.
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Freisein bedeutet für mich auch, Widerstand und Gelassenheit passend einzusetzen und zu dosieren und sie nicht zwanghaft zu generalisieren. Levinas Pointe sei unterstrichen: „Freiheit existiert nur als Verantwortung für den Anderen.“
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Meines Erachtens nach kann nur innerhalb eines solchen Denkens die Synthese der Gegensätze aufgehen.
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Herzlich grüßt Ihr Andreas Bangemann
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