Von Ausgegrenzten und Unproduktiven

Vorwort der Zeit­schrift für Sozi­al­öko­no­mie April 2010

 

Liebe Lese­rin und lieber Leser,

ähnlich wie die großen Krisen der 1920er und 1930er Jahre bringt auch die gegen­wär­ti­ge Krise Demago­gien hervor. In einem Arti­kel über die „Revo­lu­ti­on der geben­den Hand“ stell­te zum Beispiel der Philo­soph Peter Sloter­di­jk die histo­ri­sche Tatsa­che der ursprüng­li­chen und fort­ge­setz­ten Kapi­tal­ak­ku­mu­la­ti­on und mit ihr die unge­rech­te Vertei­lung von Einkom­men und Vermö­gen in Abrede. Und wort­ge­wal­tig pran­gerte er die „Staats­klep­to­kra­tie“ an: der „semi-sozia­lis­ti­sche“ Steu­er­staat raube die „Produk­ti­ven“ zuguns­ten der „Unpro­duk­ti­ven“ aus. (FAZ vom 13.6.2009)

   Mit dem gene­rell proble­ma­ti­schen Begriff „Unpro­duk­ti­ve“ meinte Sloter­di­jk nicht etwa Bezie­her von Vermö­gens­ein­künf­ten, sondern die aus der Arbeits­welt ausge­grenz­ten Empfän­ge­rIn­nen staat­li­cher Sozi­al­leis­tun­gen. Als „Trans­fer­mas­sen­neh­mer“ verun­glimpf­te er sie in einem „Mani­fest der Leis­tungs­trä­ger“. (Cicero Nr. 11/2009, S. 94–107) Die „produk­ti­ven Trans­fer­mas­sen­ge­ber veror­tete Sloter­di­jk in der oberen Mittel­schicht und in der Ober­schicht, obwohl deren Beitrag zum Steu­er­auf­kom­men und zur Finan­zie­rung des Sozi­al­staats gering ist oder durch eine Flucht in Steu­er­oa­sen ganz vermie­den wird. Die Tatsa­che, dass der mitt­ler­wei­le mit 1,69 Billio­nen Euro verschul­de­te Staat Jahr für Jahr aus Steu­er­mit­teln hohe Milli­ar­den­be­trä­ge – 2009 waren es fast 70 Mrd. Euro – als Zinsen an seine Gläu­bi­ger umver­teilt, stört Sloter­di­jk über­haupt nicht.

   Wer die struk­tu­rel­le Unge­rech­tig­keit der bestehen­den Wirt­schaft igno­riert und statt­des­sen die sich daraus erge­ben­den Folge­pro­ble­me perso­na­li­siert, indem er wie Sloter­di­jk „Produk­ti­ve“ und vermeint­lich „Unpro­duk­ti­ve“ gegen­ein­an­der ausspielt, vergif­tet das gesell­schaft­li­che Klima – ebenso wie dieje­ni­gen Poli­ti­ker, die gegen­wär­tig Fälle von Miss­brauch von Sozi­al­leis­tun­gen verall­ge­mei­nern und dabei groß­zü­gig über die gigan­ti­sche Konzen­tra­ti­on von Geld- und Real­ver­mö­gen in weni­gen Händen hinwegsehen.

   Dies ist umso unver­ant­wort­licher, als die gegen­wär­ti­ge Krise gemäß einer Studie „A Tale of Two Depres­si­ons“ von Barry Eichen­green und Kenneth O’Rourke offen­bar schwe­rer ist als die große Welt­wirt­schafts­kri­se ab 1929. Damals folgte der Krise ein Zivi­li­sa­ti­ons­bruch von unvor­stell­bar grau­en­haf­tem Ausmaß. Und heute? Nach dem ersten Erschre­cken über das Ausmaß der jüngs­ten Krise sind Wissen­schaft, Poli­tik und Banken längst wieder zur gewohn­ten Tages­ord­nung über­ge­gan­gen. Diesem grob fahr­läs­si­gen Handeln der Verant­wort­li­chen trat Prof. Dennis Snower, Präsi­dent des Kieler Insti­tuts für Welt­wirt­schaft, entge­gen: „Ich traue dem Aufschwung nicht. Wir sind nur schein­bar zurück in unse­rer komfor­ta­blen Welt. Sie steht nicht auf stabi­lem Funda­ment. Der Vulkan bleibt ruhig, aber das Grol­len unter der Erde geht weiter. Die Zeichen einer neuen Blase mehren sich.“ („Wie auf einem Vulkan“, in: Süddeut­sche Zeitung vom 12.2.2010)

   Immer­hin gibt es am Rande der Ökono­mie und nicht mehr nur in ihren Unter­wel­ten eine wissen­schaft­li­che Diskus­si­on über den Gedan­ken, dass die Wirt­schaft ihrer Liqui­di­täts­fal­le durch „Nega­tiv­zin­sen“ entkom­men könnte. Keine gerin­ge­ren als die renom­mier­ten Ökono­men Willem Buiter und Grego­ry Mankiw haben dieser Diskus­si­on Auftrieb gege­ben. Ebenso erfreu­lich sind die Anzei­chen einer Wieder­ent­de­ckung von Keynes’ Bancor-Plan und die neue Diskus­si­on über Commons bzw. Gemein­gü­ter. Gleich­wohl ist Realis­mus statt Eupho­rie ange­sagt. Das Schei­tern der Klima­kon­fe­renz in Kopen­ha­gen ist auch ein Hinweis darauf, dass der Weg zu grund­le­gen­den Refor­men im Bereich der Boden-/Res­sour­cen- und der Geldordnung noch weit sein dürfte. Auch sind bei weitem noch nicht alle damit verbun­de­nen Details geklärt. Noch besteht ein großer Bedarf an Forschun­gen und kontro­ver­sen Diskus­sionen, zu denen wir mit dem vorlie­gen­den Heft einige Denk­an­stö­ße geben möch­ten.

Werner Onken, Redakteur 

 

 

Inhalt

 

Elmar Altva­ter          Die Finanz­kri­se ist eine System­kri­se des Kapi­ta­lis­mus      

 

Norbert Olah, 

Thomas Huth,

Dirk Löhr                  Geld­po­li­tik mit opti­ma­ler Zinsstruktur

                                         

Ferdi­nand Wenz­laff   Vorschlag für ein Para­dig­ma einer 

                                  Kredit­geld­wirt­schaft und neuen Kredit- und 

                                  Geld­po­li­tik

 

Helmut Creutz           Nega­tivzinsen erfor­dern eine Geld­um­lauf­si­che­rung

 

Thomas Betz             Keynes’ Bancor-Plan reloaded

 

Fabian Thiel              Land, Ener­gie und Klima – Geosphä­ren als 

                                  Gemein­schafts­gü­ter im Sinne von 

                                  Elinor Ostrom und Peter Barnes?

  

Fritz Andres              Nach der Klima­kon­fe­renz von Kopenhagen

 

                                  

Bezug

 

Verlag für Sozialökonomie

Hofholz­al­lee 67, 24109 Kiel

Mail: versand@gauke.de

Web: www.sozialoekonomie-online.de

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