Soziale Eiseskälte liegt in der Luft – Pat Christ

Die fort­ge­setz­te Demon­ta­ge des Sozi­al­staats wird weit­rei­chen­de Folgen haben
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Wer hat eigent­lich eine direk­te Einfluss­nah­me auf die Sozi­al­po­li­tik – und damit auf den Sozi­al­staat? Dieser Frage gingen Udo und Silke Kruse in einem Aufsatz aus dem Jahr 2005 nach. Anlass war die dama­li­ge Redu­zie­rung der sozia­len Leis­tun­gen. Stich­wort: Hartz IV. Der Aufsatz des Ehepaars erschien in der Mai-Ausga­be der Zeit­schrift „Gesund­heits- und Sozi­al­po­li­tik“. Die trug den Titel: „Sozi­al­staat meets Heuschre­cke“. Heute könnte eine Über­schrift lauten: „Sozi­al­staat meets Kriegstreiberei“.
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Nimmt man das Leit­mo­tiv der Ampel­ko­ali­ti­on ernst, müsste es gut bestellt sein um den Sozi­al­staat. „Es ist das Motto ‘Chan­cen und Schutz’; denn um beides geht es”, erklär­te Huber­tus Heil im Novem­ber 2022 im Bundes­tag. Und weiter: „Es geht darum, dass die Qualität eines Sozi­al­staa­tes sich zum einen daran bemisst, wie man mit Menschen umgeht, die auf Hilfe und Unterstützung ange­wie­sen sind. Aber die Qualität des Sozi­al­staa­tes bemisst sich nicht allein an der Fähigkeit, Menschen in Not zu schützen, sondern vor allen Dingen auch daran, wie es gelingt, Menschen zu einem selbst­be­stimm­ten Leben ohne Abhängigkeit zu befähigen.”
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Dies sei „der Kompass unse­rer Poli­tik”. Einein­halb Jahre sind eine lange Zeit. Der Kompass hat sich gedreht. 2024 gibt es Kürzun­gen beim Bürger­geld. Eine Rück­nah­me des Bürger­geld-Bonus. Und die Wieder­ein­füh­rung einer 100-Prozent-Leis­tungs­min­de­rung als Sank­ti­on für unwil­li­ge Bürgergeldempfänger.
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Eine inter­ak­ti­ve Grafik auf der Home­page „Bundes­haus­halt“ zeigt, wie viel Geld 2024 wofür ausge­ge­ben werden soll. Der Haus­halt, der aus langen Quere­len im Bundes­tag hervor­ging, umfasst knapp 477 Milli­ar­den Euro. In der Kuchen­gra­fik springt ein großes rotes Feld ins Auge. Der Arbeits- und Sozi­al­haus­halt ist nach wie vor der größte Posten. Fast 37 Prozent des Budgets flie­ßen hier hinein – insge­samt mehr als 175 Milli­ar­den Euro. Auf den ersten Blick wirkt das nicht so, als würde man dem Sozi­al­staat Ade sagen wollen. Doch das täuscht.
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Riesig im Vergleich zu früher ist letzt­lich das Kuchen­feld für „Vertei­di­gung“ gewor­den. Mehr als jeder zehnte Euro, der 2024 zur Verfü­gung steht, soll hier­hin­ein flie­ßen. Insge­samt fast 52 Milli­ar­den Euro. Da sind 60 Prozent mehr als 2014, als der Etat noch 32,4 Milli­ar­den Euro betrug. Die NATO gibt Order, zwei Prozent der Wirt­schafts­leis­tung in „Vertei­di­gung“ zu inves­tie­ren. Deutsch­land über­erfüllt diese Anwei­sung in diesem Jahr.
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Eben diese Milli­ar­den fehlen im Sozia­len. Was eine Menge Leute betrifft. Und nicht nur Leute. Es geht um viel mehr. Der Bezirks­ver­band Hanno­ver der AWO schreibt auf Face­book: „Armut zu bekämp­fen und den Sozi­al­staat zu stär­ken, ist kein Akt der Wohl­tä­tig­keit, sondern eine Voraus­set­zung für die Stabi­li­tät unse­rer Demokratie.”
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Die Spit­zen­ver­bän­de der Freien Wohl­fahrts­pfle­ge sehen den Sozi­al­staat in Deutsch­land ange­sichts der Kürzungs­plä­ne im Bundes­haus­halt 2024 ernst­haft gefähr­det. Das schrie­ben sie in eine Pres­se­mit­tei­lung im Novem­ber 2023. Durch die dras­ti­sche Erhö­hung der Rüstungs­aus­ga­ben spit­zen sich die Vertei­lungs­kämp­fe zu, sagte soeben der Poli­tik­wis­sen­schaft­ler Chris­toph Butter­weg­ge der „Frank­fur­ter Rundschau“.
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„Das ist widersinnig“
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„Wider­sin­nig ist es, das Ausmaß der Rüstungs­an­stren­gun­gen eines Landes vom Brut­to­in­lands­pro­dukt, also von seinem Wirt­schafts­wachs­tum, statt von der mili­tä­ri­schen Bedro­hungs­la­ge abhän­gig zu machen”, schreibt er in seinem Beitrag. Und: „Jeden­falls verstärkt Aufrüs­tung die sozia­le Ungleich­heit, denn sie macht die Reichen reicher und die Armen zahl­rei­cher. Haupt­pro­fi­teu­re der außen‑, ener­gie- und mili­tär­po­li­ti­schen Zeiten­wen­de sind die Groß­ak­tio­nä­re deut­scher und US-ameri­ka­ni­scher Rüstungs­kon­zer­ne. Dass ihr fast zwangs­läu­fig eine sozi­al­po­li­ti­sche Zeiten­wen­de folgt, wird zur Senkung des Lebens­stan­dards der Bevöl­ke­rungs­mehr­heit führen.”
Doch all das ist erst der Anfang. Finanz­mi­nis­ter Lind­ner wünscht sich ein Mora­to­ri­um: Drei Jahre ohne neue Sozi­al­aus­ga­ben und Subven­tio­nen. So könne Deutsch­land Geld in seine „Vertei­di­gung“ inves­tie­ren. Man kann inzwi­schen mit Blick auf das, was auf den Titel­sei­ten der Maga­zi­ne prangt, wohl auch getrost sagen: In Krieg. Allen „Nie wieder“-Beschwörungen der vergan­ge­nen Jahr­zehn­te zum Trotz.
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Der Sozi­al­ver­band VdK reagiert empört. „Wir brau­chen kein Mora­to­ri­um bei den Sozi­al­aus­ga­ben. Wer alte, kranke oder arme Menschen mit ihren Sorgen im Stich lässt und dadurch einer sozia­len Spal­tung Vorschub leis­tet, hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Anstatt mit ange­zo­ge­ner Schul­den­brem­se das Sozi­al­bud­get zusam­men­zu­strei­chen, brau­chen wir ein gerech­tes Steu­er­sys­tem, um drin­gend notwen­di­ge sozi­al­po­li­ti­sche Aufga­ben finan­zie­ren zu können. Es ist an der Zeit, dass dafür die Super­rei­chen in diesem Land endlich stär­ker in die Verant­wor­tung genom­men werden und ihren Beitrag für eine gerech­te Gesell­schaft leis­ten”, kommen­tiert er.
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Vertrau­en schwindet
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Bei einer Tagung der Fried­rich-Ebert-Stif­tung im Jahr 2005 wurde fest­ge­stellt, dass es durch den Abbau sozi­al­staat­li­cher Leis­tun­gen und einer sich vergrö­ßern­den „Gerech­tig­keits­lü­cke“ zu einem Vertrau­ens­schwund gekom­men ist. Armin Lang, Sozi­al­päd­ago­ge und einst Vorsit­zen­der der Arbeits­ge­mein­schaft der Sozi­al­de­mo­kra­ten im Gesund­heits­we­sen, machte dies zu jener Zeit schon an der Wahl­be­tei­li­gung fest. „Es ist heute nicht selten, dass sich ganze Stadt­tei­le, Stra­ßen, Bezir­ke, Wohn­quar­tie­re von poli­ti­schen Wahlen nicht ange­spro­chen fühlen”, schrieb er 2005: „Ein ‘Volk wendet sich ab’; es flüch­tet resi­gniert ins Private.”
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Auch dieser Tage kann man eine Abwen­dung von der etablier­ten Poli­tik beob­ach­ten. Bei gleich­zei­ti­ger Zuwen­dung zu poli­ti­schen Strö­mun­gen abseits der etablier­ten Partei­en. Warum es weit­hin verwun­dert, dass immer mehr Menschen über die etablier­te Poli­tik in Harnisch gera­ten, ist nicht recht zu begrei­fen. Es hat mit dem Sozi­al­staat zu tun. Es hat damit zu tun, dass immer mehr Menschen verar­men, weil sich vieles in den letz­ten Jahren drama­tisch verteu­ert hat. Es hat damit zu tun, dass nicht wenige Menschen befürch­ten, irgend­wann in der Gosse zu enden. Weil sie sich die Miete nicht mehr leis­ten können. Eine schreck­li­che Befürch­tung. Ein schreck­li­ches Gefühl.
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Über­haupt: Gefüh­le. Wieder mal rücken Menschen im Sozi­al­geld­be­zug in schrä­ges Licht. Eben noch hatte man das Bürger­geld verbes­sern wollen, was mit Hartz IV so viel schlech­ter gewor­den ist. Nun bezieht man also nicht mehr Hartz IV. Sondern Geld als Bürger. Was besser klingt. Nun dreht sich der Wind schon wieder. Wieder geht die Rede von Sozi­al­schma­rot­zern um. Wieder werden Menschen, die ohne­hin darun­ter leiden, dass man sie offen­bar zu nichts verwen­den kann, von Poli­ti­kern diffa­miert. Diese woll­ten nur den Good­will des Sozi­al­staats ausnut­zen. Sie streng­ten sich zu wenig an. Seien nicht willig genug. Aus Faul­heit greife man Trans­fer­leis­tun­gen ab.
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Natür­lich gibt es ein paar wenige, die sich in der sozia­len Hänge­mat­te einzu­rich­ten wissen. Das komplett abzu­strei­ten, bringt auch nicht weiter. Doch es handelt sich nicht um das Gros. Was Menschen am unte­ren Ende der sozia­len Hier­ar­chie vermis­sen, ist eine objek­ti­ve Wahr­neh­mung ihrer Situa­ti­on. Ist eine objek­ti­ve Bericht­erstat­tung. Nicht nur über ihre eigene Situa­ti­on als Sozi­al­leis­tungs­be­zie­her. Sondern über viele aktu­el­le Situa­tio­nen. Proble­me. Poli­ti­schen Entschei­dun­gen. Daher die Abwen­dung. Es ist immer schlecht, wenn man am Sozi­al­staat sägt…
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„Einsei­tig und blind“
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Und das geschieht seit langem. Genau zehn Jahre ist es her, dass der dama­li­ge Vorsit­zen­de des Deut­schen Gewerk­schafts­bun­des (DGB), Micha­el Sommer, die Bürger aufrief, sich an Demons­tra­tio­nen für ein sozia­les Europa in Berlin und ande­ren Städ­ten zu betei­li­gen. „Unter dem Motto ‚Unser Europa – frei, gleich, gerecht‘ werden wir Poli­ti­kern, die einsei­tig und blind für die ökono­mi­sche Vernunft den Bürge­rin­nen und Bürgern in die Tasche grei­fen und ihre Rechte beschnei­den wollen, eine glas­kla­re Absage ertei­len: Unser Sozi­al­staat muss erneu­ert werden, aber er ist kein Objekt für Abbruch­un­ter­neh­mer“, sagte Sommer Anfang 2004 auf der DGB-Jahrespressekonferenz.
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Gewerk­schafts­funk­tio­nä­re verste­hen sich vor allem als Obleu­te für Arbeit­neh­me­rin­nen und Arbeit­neh­mer. Doch ihr Enga­ge­ment geht weit darüber hinaus. Erfreu­lich ist, dass sich der DGB im Moment nicht auf die Seite der Kriegs­trei­ber und Sozi­al­staats­de­mon­teu­re stellt. Dies ist umso erfreu­li­cher, da er während der Corona-Krise ein extrem nega­ti­ves Bild abgab. Auch wenn die meis­ten Bürger am liebs­ten nichts mehr wissen wollen von der Corona-Krise, soll dieses heiße Eisen zumin­dest kurz ange­rührt werden. Es wäre nach wie vor einer nähe­ren Betrach­tung wert.

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