Russisches Roulette – Kein Spiel, wie jedes andere – Kurzgeschichte v. A. Bangemann

– - – 

Wie war er nur in diese miss­li­che Lage gera­ten? Man hielt ihm einen Revol­ver an den Kopf. Einen, wie er sie aus Western­fil­men kannte. Mit einer Trom­mel, in die sechs Kugeln passten.

– - – 

„Heute ist Dein Glücks­tag. Du darfst Russi­sches Roulette spie­len. Es ist nur eine Kugel in der Trom­mel. Ich drehe einmal und drücke ab.“ Trotz seiner Angst rutsche ihm heraus: „Na Danke, das sind wahr­lich groß­ar­ti­ge Aussichten!“.

– - – 

„Moment, Du weißt noch nicht alles.“, erwi­der­te die Person, die sich hinter dem Lauf befin­den musste, der direkt vor seinem Gesicht den Ausblick auf den Raum versperr­te. „Du hast natür­lich noch eine Auswahl und bekommst etwas Zeit zum Nach­den­ken. Als Hilfs­mit­tel steht Dir außer­dem ein Compu­ter mit Inter­net­an­schluss zur Verfü­gung. Folgen­de Alter­na­ti­ven stehen Dir zur Auswahl: Du verlässt diesen Raum und damit unser Spiel, gehst nach Hause und bleibst dort für eine unge­wiss lange Zeit. Die Begeg­nung mit ande­ren Menschen wird auf ein Mindest­maß einge­schränkt. Ausge­nom­men jene, die mit Dir in einem Haus­stand leben. Du wirst gezwun­gen, einen Mund­na­sen­schutz zu tragen, wenn Du Deine Wohnung verlässt. Du verlierst Deine Arbeit, Deine Firma und alle Einnah­men, die Du bis gestern erzielt hast. Vorüber­ge­hen­de Hilfen des Staa­tes kannst Du erwar­ten. Die werden Dir aller­dings nicht das Leben ermög­li­chen, das Du bisher kann­test. Du wirst viel Zeit zum Nach­den­ken haben und kannst aus der Einsie­de­lei heraus über­le­gen, was Du tun kannst, um – zumin­dest vorüber­ge­hend – ein ande­res Leben aufzu­bau­en. Aber ich betone: Niemand weiß, wie lange diese Lage anhält. Es können Wochen, Monate oder sogar Jahre sein.“

– - – 

„Wie sieht die Alter­na­ti­ve aus?“

– - – 

„Wir spie­len. Ich drehe die Trom­mel und drücke ab. Wenn Du Pech hast, bist Du tot. Falls keine Kugel in der Kammer ist, gehst Du zurück in Dein altes Leben, kannst weiter Dein Geld verdie­nen und bekommst als Beloh­nung von mir noch eintau­send Euro für die Unan­nehm­lich­kei­ten, denen Du gerade ausge­setzt wirst.“

– - – 

„Ist das alles?“

– - – 

„Nicht ganz. Etwas musst Du vor Deiner Entschei­dung noch wissen. All die Menschen um Dich herum, wirk­lich jeder Einzel­ne – auf der ganzen Welt – wird mit der glei­chen Situa­ti­on konfron­tiert. Wie sie entschei­den werden, erfährst Du erst im Laufe der Zeit, voraus­ge­setzt Du überlebst.“

– - – 

„Was bedeu­tet das?“

– - – 

„Nun ja, egal was passiert: Die Welt wird danach eine andere sein. Dein Glück besteht darin, dass Du nach­den­ken darfst, bevor Du Dich entschei­dest. Du bekommst sogar Zugang zu Medien, anhand derer Du Dich über alles infor­mie­ren kannst. Du hast 48 Stun­den Zeit, Dich zu entschei­den. Du kannst mich jedoch jeder­zeit rufen, falls Du Dich schnel­ler fest­ge­legt hast. Die Uhr läuft ab jetzt!“ Blan­kes Entset­zen verhin­der­te zunächst jegli­che Gedan­ken. Sein Körper war mit dem Ausströ­men und der Verar­bei­tung eines Ozeans an verschie­de­nen Hormo­nen befasst, sodass Nach­den­ken vorüber­ge­hend ausge­schlos­sen schien.

– - – 

Das erste, was er wieder wahr­nahm, war das Compu­ter­dis­play auf dem Tisch. Er öffne­te den Brow­ser und es stimm­te: Er war online. Im Nu fand er heraus, dass der „Spiel­lei­ter“ ihm die Wahr­heit sagte. Durch Einga­be der rich­ti­gen Such­wor­te wurde ihm einer­seits der Ernst der Lage bewusst, ande­rer­seits entdeck­te er eine Unmen­ge an Exper­ten­mei­nun­gen zur weite­ren Vorge­hens­wei­se. Offen­bar gab es noch viele, die sich frei beweg­ten und denen die Auffor­de­rung zur Spiel­teil­nah­me bevor­stand. Aus Regie­rungs­krei­sen wurde unmiss­ver­ständ­lich deut­lich gemacht, dass niemand nicht spie­len werde. Früher oder später seien alle dran.

– - – 

Die mathe­ma­ti­sche Wahr­schein­lich­keit, beim Spiel zu ster­ben, liegt nur bei 16,67%. Da sei es doch keine Frage, dass man mitspie­le, ermun­ter­ten die Muti­gen. Mit 83,33-prozentiger Sicher­heit werde man zu den Gewin­nern zählen und frei sein. Die Alter­na­ti­ve wäre aufgrund der fehlen­den Einnah­men, wirt­schaft­lich ruiniert zu werden und früher oder später an Hunger oder Depres­sio­nen einzu­ge­hen. Auch keine erstre­bens­wer­te Art zu ster­ben! Und außer­dem: Ein Leben in Einsie­de­lei sei ja wohl das Letzte, das man sich antun wolle. Jahr­hun­der­te­lan­ge erkämpf­te Grund­rech­te, die man mit einem Streich opfern würde. Dazu noch an eine Horde Despo­ten im Demo­kra­tie­män­tel­chen. Knall­har­te Unter­stel­lun­gen, von eini­gen, die allem Anschein nach viel zu verlie­ren hatten.

– - – 

Mit Inter­es­se befass­te er sich mit Diskus­si­ons­fo­ren, in denen Exper­ten sich darum kümmer­ten, ob denn der Revol­ver über­haupt echt und gela­den sei. Man erwog, dass alles ein gran­dio­ser Bluff sei. Weder die Marke der Schuss­waf­fe gäbe es, noch könne darin eine tödli­che Kugel stecken. Manche behaup­te­ten, sie sei aus Watte. Außer­dem würde es jedes Jahr Hasard­spie­le geben, bei den weit­aus mehr Menschen ster­ben und um die niemand ein solches Bohei machen würde, wie bei diesem. Die angeb­lich beim Spiel ums Leben Gekom­me­nen seien in Wahr­heit vor Angst an Herz­in­fark­ten oder irgend­wel­chen Vorer­kran­kun­gen gestor­ben und nicht durch den Schuss. Die aller­meis­ten Toten wären alt gewe­sen und vermut­lich auch nicht später gestor­ben, wenn es die Zwangs­la­ge nie gege­ben hätte.

– - – 

Er fragte sich, was ihm all diese Erkennt­nis­se brin­gen ange­sichts der Zwick­müh­le, die ihm bald mit einer zu tref­fen­den Entschei­dung drohte. Die zwei­feln­den Leug­ner der Gefahr spra­chen von Peti­tio­nen, Demons­tra­tio­nen und Protest­mär­schen, die man anzet­teln wolle, um auf den größ­ten Fake der letz­ten Jahr­zehn­te aufmerk­sam zu machen. Auch bezich­tig­ten sie die Medien der anbie­dern­den Bericht­erstat­tung gegen­über den Veranstaltern.

– - – 

Es gab Berich­te von Spie­lern, die mit ihrem Mut prahl­ten und verächt­lich von Jammer­lap­pen spra­chen, würde man das Risiko des Spiels nicht auf sich nehmen und die Frei­heit wählen. Natür­lich traten auch dieje­ni­gen auf, die darauf hinwie­sen, was das Spiel kosten könnte: das Leben. Würde man nach Hause gehen, bliebe es einem. Und die Gesamt­si­tua­ti­on böte am Ende für alle Leben­den die Chance, auf einen voll­kom­me­nen Neube­ginn. Nicht nur die eigene Exis­tenz könne brand­neu orga­ni­siert werden, als Gesell­schaft habe man darüber hinaus ein nie für erdenk­lich gehal­te­nes Poten­ti­al, Syste­me anders zu gestal­ten, sodass ein weit­aus besse­res Leben für alle erreicht werden könne. Wenn die Einsie­de­lei erst einmal vorüber wäre, gäbe es einen grund­le­gen­den Neuan­fang. Er dachte an seine Arbeit und ihm fiel ein, wie er sich seit Jahren im Hams­ter­rad, in einem Irrgar­ten fühlte. Zwar gutbe­zahlt und mit allen vermeint­li­chen Annehm­lich­kei­ten des Lebens ausge­stat­tet. Aber eben ange­trie­ben von einer Kraft, derer er nicht Herr zu werden verstand und durch die er gehin­dert war, das zu tun, was er viel lieber täte, aber nicht konnte, weil es mate­ri­el­le Unge­wiss­heit mit sich brächte.

– - – 

Beim inten­si­ven Denken verging die Zeit im Flug. Nach­dem der Spiel­lei­ter wieder vor ihn trat, die Waffe erhob und sie ihm an die Schlä­fe legte und den Hahn spann­te bis er einras­te­te, hörte er dieses vertrau­te metal­li­sche Rattern der rotie­ren­den Revol­ver­trom­mel, das er nur aus Filmen kannte. Sein Gegen­über führte den Zeige­fin­ger zum Abzug.

„Und? Wie hast Du Dich entschie­den?“ – - – mehr online 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Kommentare werden moderiert. Es kann etwas dauern, bis dein Kommentar angezeigt wird.