Probleme unserer Demokratie – Siegfried Wendt
Vorbemerkung
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Manche Leser mögen sich fragen, was denn ein Aufsatz über politische Probleme in der Zeitschrift HUMANE WIRTSCHAFT zu suchen hat. Der Grund dafür ist der Zusammenhang zwischen Mängeln des politischen Systems und Mängeln des Wirtschaftssystems. Denn Mängel des politischen Systems führen fast zwangsläufig zu Mängeln des wirtschaftlichen Systems.
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1. Der Demokratiebegriff
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Der Philosoph Karl Popper (1902– 1994) hat ein Kriterium formuliert, an dem man angeblich eine Demokratie erkennt: Eine Demokratie ist nur dann gegeben, wenn das Volk die Möglichkeit hat, die jeweiligen Machthaber inklusive ihres Klüngels gewaltlos zu entmachten. Das Poppersche Kriterium sagt allerdings nichts darüber aus, wie der Prozess aussehen soll, durch den eine neue Regierung ins Amt kommt.
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In allen sogenannten Demokratien, die ich kenne, gibt es keine Trennung zwischen der Abwahl der alten Regierung und der Einrichtung einer neuen Regierung. Eine Abwahl der alten Regierung müsste ja sicherstellen, dass kein Mitglied der alten Regierung in die neue Regierung übernommen wird. Es ist aber üblich, dass nur die Abgeordneten für das Parlament gewählt werden, wobei viele der bisherigen Abgeordneten wiedergewählt werden können, und dass dann in Koalitionsverhandlungen von den Parteigremien ein Vorschlag der Regierungszusammensetzung erarbeitet wird, der dem neuen Parlament zur Abstimmung vorgelegt wird. Die Erfahrung zeigt, dass in dieser neuen Regierung oft noch etliche Positionen mit Mitgliedern der alten Regierung besetzt sind.
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Es fällt also im Falle politischer Wahlen immer schon vor der eigentlichen Abstimmung eine kritische Entscheidung, denn es muss ja entschieden werden, welche Alternativen überhaupt zur Wahl gestellt werden. Und diese Vorabentscheidung ist nicht demokratisch! Man bedenke, dass ja auch in totalitären Staaten Parlamentswahlen stattfinden. In diesen Fällen legen die bisherigen Machthaber fest, wer auf den Stimmzettel gesetzt wird. Und das sind dann verständlicherweise lauter Kandidaten, die garantiert dafür sorgen, dass die bisherigen Machthaber ihre Macht behalten.
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2. Das Problem der Wahlberechtigung
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Dass es Regeln geben muss, die festlegen, welche unserer Staatsbürger das Wahlrecht haben sollen, ist leicht einzusehen, denn es wäre absurd, wenn Kindergartenkinder mitbestimmen dürften, wer uns regiert. Allerdings ist die Festlegung einer Altersgrenze durchaus nicht trivial. In der gerade stattgefundenen Europawahl durften in Deutschland erstmalig bereits alle deutschen Staatsbürger wählen, die 16 Jahre oder älter waren. Früher lag bei uns die Grenze zur sogenannten Volljährigkeit bei 21 Jahren. Als ich im Jahr 1961 dieses Alter erreichte, war ich bestimmt nicht lebenserfahren und wusste über die Problematik politischer Verhältnisse so gut wie nichts. Deshalb konnte ich, obwohl ich damals schon wählen durfte, meine Wahlentscheidungen bestimmt nicht überzeugend begründen.
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3. Das Problem der Wahlberechtigung
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In Parlamentswahlen wird Einfluss darauf genommen, welche kleine Auswahl unserer Mitbürger uns in den kommenden Jahren regieren soll. In Deutschland leben zurzeit rund 80 Millionen Menschen, und deren Schicksal hängt stark von Entscheidungen ab, die von weniger als achttausend ihrer Mitmenschen gefällt werden. Das heißt, dass ein Hundertstel Prozent der bundesdeutschen Staatsbürger wesentlichen Einfluss darauf hat, wie das Leben ihrer Mitbürger verlaufen wird. Deshalb haben die Wähler, die dieses Hundertstel Prozent festlegen, eigentlich eine gewaltige Verantwortung – die sie aber nicht rechtfertigen müssen, da ihre Abstimmungen ja geheim erfolgen. Es gibt zwar gute Gründe dafür, dass die Wahlen geheim erfolgen, aber andererseits haben dann alle Wähler die Möglichkeit zu behaupten, sie seien es nicht gewesen, durch die die Regierung an die Macht kam, die den Karren in den Dreck gefahren hat.
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4. Wer kommt auf den Stimmzettel?
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Während es im Falle der Besetzung offener Arbeitsplätze in Betrieben oder Behörden keine ernstzunehmenden Alternativen zur öffentlichen Ausschreibung gibt, ist die Aufforderung zur Bewerbung im Falle der Besetzung politischer Ämter zweifellos problematisch. Denn wenn nur Bürger in politische Ämter kommen, die sich zuvor beworben haben, werden sehr viele besonders geeignete Personen ausgeschlossen, die Gründe haben, sich nicht zu bewerben, die sich aber der mit dem Amt verbundenen Verantwortung stellen würden, wenn sie darum gebeten würden. Im Unterschied zu denen, die sich beworben haben, hätten diejenigen, die gebeten wurden, das Amt zu übernehmen, keinen Grund, sich mehr um ihren Machterhalt zu kümmern als um ihre eigentlichen Amtsaufgaben.
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Im Unterschied zu „normalen“ Arbeitsplätzen sind „die politischen Arbeitsplätze“ kein natürliches Ziel bestimmter Ausbildungen. Wieso sollte sich also ein promovierter Ingenieur der Digitaltechnik wie ich oder eine Krankenschwester, ein Englischlehrer oder eine Apothekerin auf einen politischen Arbeitsplatz – meistens eine Abgeordnetenstelle – bewerben? Interessanterweise behandelt unser Grundgesetz dieses Problem nicht explizit, sondern beschränkt sich auf ein paar Aussagen über die Existenz von Parteien:
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Grundgesetz Artikel 21
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Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre Gründung ist frei. Ihre innere Ordnung muss demokratischen Grundsätzen entsprechen. Sie müssen über die Herkunft ihrer Mittel öffentlich Rechenschaft geben.
Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig. Über die Frage der Verfassungswidrigkeit entscheidet das Bundesverfassungsgericht.
Das Nähere regeln Bundesgesetze.
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Wer diesen Artikel liest und weiß, dass dies die einzige Stelle im Grundgesetz ist, wo von politischen Parteien die Rede ist, muss sich eigentlich wundern, welch dominante Rolle die Parteien im politischen Geschehen unseres Landes spielen dürfen. Bei Wahlen ist die Frage nach der Parteizugehörigkeit der Kandidaten von zentraler Bedeutung. Selbst die sogenannten Freien Wähler sind eine Gruppe mit Parteienstatus; ihre „Freiheit“ besteht lediglich darin, dass sie kein offizielles Parteiprogramm haben.
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Die Erfahrung zeigt, dass ein Kandidat, der es auf den Stimmzettel geschafft hat, die Stimmenmehrheit bekommen kann, selbst wenn er für das zu besetzende Amt völlig ungeeignet ist. Politische Mündigkeit kann man nämlich keineswegs bei allen Wahlberechtigten voraussetzen – sonst wären nicht schon so viele offensichtlich ungebildete oder bösartige Kandidaten in hohe politische Ämter gewählt worden. Deshalb muss man besonders kritisch den Prozess betrachten, durch den entschieden wird, wer überhaupt auf den Stimmzettel gelangt. Der Amtseid, den jeder Gewählte leisten muss, wenn er in ein Regierungsamt gelangt, setzt nämlich seine Eignung für das Amt überhaupt nicht voraus. Er lautet:
„Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohl des Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, Verfassung und Recht wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegenüber allen üben werde.“
Dieses Versprechen kann auch ein Ungeeigneter einhalten, denn es geht ja nur um den Einsatz seiner Kraft – egal, wie schwach diese auch sein mag.
Das einzige Kriterium, nach dem die Parteigremien die Prioritätsreihenfolge festlegen, in der sie die Bewerber auf den Wahlzettel setzen, ist die Frage, ob man dem Kandidaten zutraut, möglichst viele Wählerstimmen zu gewinnen. Und da spielt die Frage nach seiner Popularität eine viel größere Rolle als die Frage nach seiner fachlichen Eignung.
Um von seiner Partei als besonders chancenreich betrachtet zu werden, muss ein Kandidat im Wahlkampf „die Sprache des einfachen Volkes“ sprechen können. Deshalb lassen sich die Parteien vor Wahlkämpfen von Werbepsychologen beraten, die Erfahrung darin haben, die Bürger zum Kauf von Produkten zu verleiten, die völlig überflüssig sind. Es sind nur zwei Dinge, die in Wahlkämpfen fast immer betont werden: Welche Vorteile wird ein Wähler haben, wenn er seine Stimme dem Kandidaten gibt, und welche Nachteile wird das Volk haben, wenn die gegnerische Partei an die Macht kommt.
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