Nicht fassbarer Überfluss – Editorial
Seit Wochen beobachte ich die Rotbuche neben unserer Terrasse. Sie trägt dieses Jahr zahllose Früchte. Es müssen einige Tausend der dreikantigen Nüsse sein, noch eingepackt in eine hölzerne, durch weiche Stacheln leicht piksende Hülle. Jede einzelne Buchecker hat das Potential, zu einem prachtvollen bis zu 40 Meter hohen Baum zu werden. Was für eine verschwenderische Fülle die Natur doch produziert!
Die Eichhörnchen freut der üppig gedeckte Tisch besonders. Ihr Lieblingsgericht wird als Wintervorrat an unzählbaren Stellen vergraben. Zwei Drittel der Vorratskammern findet dieser liebenswerte Waldbewohner nie wieder. Welche Verschwendung!
Überfluss, der zum Segen der Natur beiträgt.
Der Mensch, die Krone der Schöpfung, hat Kraft seiner einmaligen Intelligenz das Geld zur Erleichterung von Tauschprozessen erfunden. Keine zwei Drittel, aber fast die Hälfte der in Deutschland produzierten Lebensmittel vergammeln. Nicht, weil wir sie nicht wiederfinden oder wir es so wollten, sondern weil wir es können. Was von der üppigen Auswahl im Supermarkt verdirbt, ist von den Käufern der Frischware längst mitbezahlt worden. Und trotzdem sind Lebensmittel historisch billig. Seit der Jahrtausendwende braucht ein deutscher Haushalt im Durchschnitt
nur rund 15 % seines Einkommens für Essbares, Getränke und Tabakwaren. In den Nachkriegsjahren lag dieser Wert bei 50 %, in den Siebziger Jahren noch bei 25 %. In Drittweltländern sind es heutzutage 60 %.
Lebensmittelproduktion ist lohnintensiv. Die nicht für die Grundbedürfnisse benötigten Ausgaben fließen mehr denn je in kapitalintensiven Konsum, wie technische Geräte, Maschinen, Fahrzeuge usw. Eine Verschiebung, die dazu führt, dass ein größer werdender Anteil der Einkommen
über die Ausgaben, gut „versteckt“ in den Preisen von Gütern und Dienstleistungen, zum Kapitalmarkt fließt. Von dort wird die Weltproduktion befeuert, sorgt für ständig wachsenden Reichtum und hat unglücklicherweise eine elende Seite: zunehmende Armut.
Nichts bleibt unverwertet und so wandert unser organischer Abfall in moderne – und selbstverständlich kapitalverschlingende – Biogasanlagen. Dort wird jene Energie erzeugt, die wir für die Produktion weiteren Überflusses benötigen. Ein Teufelskreis aus wachsendem monetärem
Reichtum, auf Gedeih und Verderb verbunden mit Natur-Raubbau und sozialem Elend. Beim menschlichen Wirtschaften führt Überfluss zu Mangel. Das trifft auf das Geld selbst genauso zu, wie auf viele andere materielle Güter. Jedes neu hergestellte Ding, das erstrebenswert ist – diesen
Anreiz zu liefern, hat sich der Mensch auch einiges einfallen lassen – bringt unbefriedigte Bedürfnisse hervor.
Hans Magnus Enzensberger schrieb 1973: „Die Wiederkehr der allgemeinen Knappheit ist der Kern der ‚ökologischen Krise‘“
Das Drama bei alledem ist, dass die Rolle des Geldes ausgeblendet wird. Wir konzentrieren uns in der Analyse der negativen Wirkungen auf die natürlich zu nennende menschliche Eigenschaft des Strebens nach Erreichbarem – in dem Zusammenhang gerne „Gier“ genannt –, verteufeln es und
übersehen dabei jene ursächliche Lebensumwelt-Bedingung zu untersuchen, die dieses Begehren antreibt. Das als dienendes Tauschmittel gedachte Geld hat einen entscheidenden Fehler. Wenn Enzensberger Recht hat – und ich gebe ihm Recht – dann setzen alle Bemühungen von Ökologen, Politikern, Experten und Umweltschützern am falschen Ende an. Sie plagen sich mit dem bedrohlichen Überfluss ab, der durch die rastlose Produktion in immer zerstörerischer wirkenden Mengen „ausgespuckt“ wird. Als Folge wird jeder Abfall monetär verwertet. Man ruft zur Mäßigung auf, wo mehr und mehr Menschen Mangel leiden. Es ist ein Kampf gegen Windmühlen, deren Kraft aus der Quelle eines Systems gespeist wird, das Überfluss und Knappheit zugleich erzeugt.
Liebe Naturliebende und Mitmenschen, befasst Euch mit dem Geld und überwindet die Knappheit. Nur dann kann die Erde ins Gleichgewicht und der
Mensch zur Ruhe kommen.
Bei Marxismus und Kapitalismus handelt es sich um Systeme, die bekanntlich beide nicht in der Lage sind, Mangel und Knappheit zu überwinden. Bei Ersterem ist Mangel schlechthin gewolltes Prinzip.
Der Marxismus ist das System der despotischen Begrenzung. Der neoliberale Kapitalismus Friedmanscher Prägung das der überzeichneten Freisetzung. Mangel und Knappheit treiben beide über kurz oder lang in den Untergang.
Henry George und Silvio Gesell widmeten ihr Streben der Überwindung von Knappheit, mit dem Ziel eines naturund menschengerechten Wirtschaftens. Dieses Erbe wird von heutigen Sachkundigen erweitert.
Sie alle stehen – viel zu wenig wahrgenommen und geschätzt – mitsamt hoffnungsvollem „drittem Weg“ im Abseits. Im Rampenlicht, mit ohrenbetäubendem, die Sinne verwirrendem Lärm, profilieren sich die machthabenden Politiker und die mit ihnen verbundenen Experten. Sie
übertreffen sich mit Lösungsvorschlägen, die allesamt nur dazu taugen, das Wachstum von Reichtum und Armut zu beschleunigen.
Das ist nicht zu fassen.
Herzlich grüßt Ihr Andreas Bangemann
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