Mein persönliches Friedensprojekt – Editorial

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Ich wurde beraubt. Der Krieg in der Ukrai­ne nahm mir Zuver­sicht, weil er den Sinn in Frage stellt, der mein Forschen nach besse­ren wirt­schaft­li­chen Rahmen­be­din­gun­gen antreibt. Darin sehe ich meinen Beitrag zur Schaf­fung von Voraus­set­zun­gen für Frie­den und Gerech­tig­keit. Die in seiner Struk­tur ange­leg­ten Anreiz­sys­te­me unse­rer Wirt­schafts­ord­nung führen auf lange Sicht zu sich verschär­fen­den Unge­rech­tig­kei­ten und verstär­ken tenden­zi­ell Ungleich­heit. Sozia­le Gegen­sät­ze verschlim­mern sich schlei­chend und entla­den sich am Ende in volks- und welt­wirt­schaft­li­chen Zusam­men­brü­chen und Krie­gen. Die mir selbst gestell­te Aufga­be sehe ich in der lang­fris­ti­gen Präven­ti­on. In der beschei­de­nen Mitwir­kung an struk­tu­rel­len, ordnungs­ge­ben­den Verän­de­run­gen. Dazu nutze ich diese Zeit­schrift und stelle Verbin­dun­gen zu Menschen mit glei­chen Zielen her. Solchen, denen es um mensch­li­che Entfal­tung auf Basis von Werten geht, die nicht als Zahlen in Wirt­schafts­bi­lan­zen abge­bil­det werden können. Der Krieg in der Ukrai­ne grätscht da auf ernüch­tern­de Weise hinein. Ein Angriffs­krieg, der auf das Konto eines skru­pel­lo­sen Einzel­nen geht. Doch Kriege stehen auch immer am Ende einer weit­aus länge­ren und umfas­sen­der ange­leg­ten Entwicklung.
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Werner Onken bringt es in einem aktu­el­len Papier so zum Ausdruck: „Bei alle­dem gerät allzu leicht aus dem Blick­feld, was alle Menschen über alle Gren­zen hinweg eint – nämlich das gemein­sa­me Mensch­sein auf dieser einen Erde und das gemein­sa­me Gefan­gen­sein in den falschen Struk­tu­ren einer durch und durch unge­rech­ten, fried­lo­sen und umwelt­schäd­li­chen Welt­wirt­schaft. Bei der Suche nach Kriegs­ur­sa­chen und Auswe­gen aus Krie­gen sollte dieses Gefan­gen­sein aller Menschen in falschen wirt­schaft­li­chen Struk­tu­ren stär­ker in den Fokus gerückt werden, denn erst durch einen unpar­tei­ischen Blick auf diese falschen Struk­tu­ren und durch die gemein­sa­me Suche nach einem Ausweg aus der für alle Menschen leid­vol­len Spira­le von Gewalt und Gegen­ge­walt könnte sich der fest­ge­fah­re­ne Gegen­satz zwischen Belli­zis­mus und Pazi­fis­mus auflö­sen lassen.“
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Wladi­mir Putin ist, wie Wolo­dym­yr Selen­skyi auch, im selben Gefüge „gefan­gen“. Und das reicht weit über das konkre­te Kriegs­ge­sche­hen hinaus. Als die Ereig­nis­se ihren Lauf nahmen, waren sie die entschei­den­den Perso­nen. Für nahezu alle Welt steht die Rollen­ver­tei­lung fest: Putin und sein poli­ti­scher Appa­rat sind die verbre­che­ri­schen Gewalt­tä­ter und Selen­skyi reprä­sen­tiert das Opfer­volk. Die Bilder vom Krieg zeigen das grau­en­vol­le Ausmaß des nach dem Zwei­ten Welt­krieg nicht mehr für möglich gehal­te­nen mensch­li­chen Leids.
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Man kann auf Zusam­men­hän­ge hinwei­sen, die jenseits des Offen­kun­di­gen zur ursäch­li­chen Wahr­heit dazu­ge­hö­ren. Aber viele Freun­de gewinnt man derzeit damit nicht. Man gerät güns­tigs­ten­falls in die Rolle des Klug­schei­ßers, der wie vor einem bren­nen­den Haus den Verzwei­feln­den beleh­ren­de Anspra­chen hält, während diese versu­chen, zu retten, was zu retten ist. Schlimms­ten­falls wird man als Propa­gan­dist für eine der Seiten gebrandmarkt.
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Beim poli­ti­schen Lösch­mit­tel dreht sich alles ums Geld. Die einen sollen mit Sank­tio­nen wirt­schaft­lich ausge­hun­gert werden, den ande­ren soll mit vielen Milli­ar­den für Waffen­lie­fe­run­gen und Huma­ni­tä­res gehol­fen werden. Der ausschließ­lich auf Profit ausge­leg­te kapi­ta­lis­ti­sche Finanz­markt wirkt sich lang­fris­tig desta­bi­li­sie­rend und spal­tend aus. Aber von dort kommen die in der Not gebrauch­ten Finanz­mit­tel. Diese werden einge­setzt, um die zuvor selbst erzeug­ten Auswir­kun­gen zu verkraf­ten: Krieg, Zerstö­rung, mensch­li­ches Leid. Enorme Kapi­tal­ren­di­te winkt im Waffen­ge­schäft und mehr noch beim zwangs­läu­fig notwen­dig werden­den Wieder­auf­bau des Zerstör­ten. Das System aus globa­len wirt­schaft­li­chen Abhän­gig­kei­ten erreicht sein Weiter­be­stehen dadurch, dass es die selbst ausge­lös­ten Kata­stro­phen als frucht­ba­ren Boden für immer wieder­keh­ren­den Aufschwung und Wachs­tum zu nutzen versteht. Fluch und Segen eng beiein­an­der. In einer Markt­wirt­schaft ohne Kapi­ta­lis­mus, wie sie der bereits zitier­te Werner Onken in Buch­form umreißt, wären den Krie­gen die Gründe und damit die Schlacht­fel­der entzo­gen, auf denen sich die Ausweg­lo­sig­keit von Unge­rech­tig­keit und Ausbeu­tung stets entlädt.
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Am 20. 8. 2021, ein halbes Jahr vor Kriegs­be­ginn, war die dama­li­ge Bundes­kanz­le­rin Angela Merkel in Russ­land. Sie hob bei der abschlie­ßen­den Pres­se­kon­fe­renz hervor, wie gut die wirt­schaft­li­chen Bezie­hun­gen zwischen Russ­land und Deutsch­land seien und dass man hinsicht­lich der Proble­me auf einem guten Weg zu gemein­sa­men Lösun­gen sei. Die globa­li­sier­te Welt kann im bestehen­den, auf Kapi­tal­ren­di­te gepol­ten Wirt­schafts­sys­tem fürs Geschäf­te­ma­chen förm­lich über Leichen gehen und unde­mo­kra­ti­sche, auto­kra­ti­sche Gewalt­herr­schaf­ten in der Funk­ti­on von Geschäfts­part­nern hofie­ren. Es stell­te sich als ein fata­ler Irrtum heraus, dass nütz­li­che Wirt­schafts­be­zie­hun­gen Macht­ver­hält­nis­se verän­dern könn­ten. Die Globa­li­sie­rung basiert in erster Linie auf eiskalt berech­ne­ten Kalku­la­tio­nen und soll höchst­mög­li­chen Profit erzie­len. Da bleibt kein Spiel­raum für außer­halb dieser Logik prokla­mier­te Werte.
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Ich versu­che mich damit abzu­fin­den, dass meine Arbeit an Verän­de­run­gen immer wieder unter­bro­chen wird von der Hart­nä­ckig­keit des Alten. Meta­mor­pho­se braucht Zeit. Ich ertra­ge die Rück­schlä­ge in stoi­scher Ruhe, wohl­wis­send, dass der Euro­pä­er Sisy­phos seinen Fels als sein Schick­sal aner­kennt und trotz seiner sich immer aufs Neue wieder­ho­len­den Mühen nicht daran zerbricht. Ange­sichts aller widri­gen Umstän­de trotz­dem weiter­ma­chen, am Guten fest­hal­ten und den einge­schla­ge­nen Weg weiter­ge­hen. Denn damit aus der kapi­ta­lis­ti­schen Raupe Nimmer­satt der wunder­schö­ne Schmet­ter­ling einer fried­li­che­ren Welt wird, bedarf es der inten­si­ven Ausein­an­der­set­zung der einan­der wider­stre­ben­den Kräfte.
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Ich schlie­ße in Dank­bar­keit unse­ren treuen Lese­rin­nen und Lesern gegen­über mit dem Lieb­lings­satz des 2017 verstor­be­nen Heraus­ge­bers der HUMANEN WIRTSCHAFT Wilhelm Schmül­l­ing: „Wir werden reüssieren!“
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Ihr Andre­as Bangemann
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