Keynes und die Rückkehr des Hausschweins – Werner Vontobel

Jeder Expat reißt fünf neue Job-Lücken auf. Und andere Gründe, warum sich Keynes mit seiner 15-Stun­den-Woche geirrt hat. – - -
1930 hat John Maynard Keynes, der damals berühm­tes­te Ökonom, prophe­zeit, dass seine Enkel pro Woche nur noch 15 Stun­den würden arbei­ten müssen. Heute bekla­gen sich seine Uren­kel darüber, dass ihre Kinder nur noch 30 Stun­den arbei­ten wollen, wo wir doch drin­gend mehr Arbeits­kräf­te brau­chen. Worin genau hat sich Keynes geirrt?
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An der Produk­ti­vi­tät kann es nicht liegen. Die ist seit damals in der Schweiz um den Faktor 5, in Groß­bri­tan­ni­en um den Faktor 8 und in Deutsch­land gar um das 11-Fache gestie­gen. Auch die länge­re Lebens­er­war­tung ist kein Argu­ment gegen kürze­re Arbeits­zei­ten, denn bei einer 15-Stun­den-Woche bräuch­ten nicht einmal Bauar­bei­ter ein frühes Pensio­nie­rungs­al­ter. Doch Keynes konnte nicht ahnen, wie sehr seine Nach­fah­ren damit beschäf­tigt sein würden, die zuneh­men­de Komple­xi­tät einer globa­len Markt­wirt­schaft zu bewältigen.
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Nestlé oder doch lieber Haus­schwein plus Schrebergarten?
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Nehmen wir unser Grund­be­dürf­nis: die Nahrung. Nestlé wendet nur gut 50 Prozent seines Umsat­zes für die eigent­li­che Herstel­lung von Nahrungs­mit­teln auf. Der Rest ist Werbung, Vertrieb, Trans­port und Marge. Bis die Produk­te dann auf dem Tisch sind, kommen noch einmal mindes­tens 20 Prozent Detail­han­dels­mar­ge und 20 Prozent Food­was­te dazu. Das ist zwar immer noch effi­zi­en­ter als ein Haus­schwein und ein Schre­ber­gar­ten, aber die Diffe­renz schrumpft.
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Dann ist da noch etwas ande­res: Mit ihren hoch verar­bei­te­ten Lebens­mit­teln sorgen Nestlé und Co. dafür, dass unser Sätti­gungs­ge­fühl unter­bun­den wird und wir pro Kopf und Tag rund 500 Kalo­rien zu viel essen – und bezah­len. Mit der Abnehmsprit­ze Ozem­pic gibt uns Big Pharma die Sätti­gung wieder zurück. In Deutsch­land für rund 300 Euro pro Kopf und Monat. Das ist rund doppelt so viel, wie Deutsch­lands Unter­schicht für Lebens­mit­tel ausge­ben kann. Dazu kommen viele teure Neben­wir­kun­gen. Das Grun­zen des Haus­schweins klingt nun schon sehr verführerisch.
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Wenn Wohnun­gen zu Immo­bi­li­en­ver­mö­gen werden
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Nehmen wir ein weite­res Grund­be­dürf­nis: Mit dem Bau von Wohnun­gen wird heute in der Schweiz nicht unbe­dingt mehr Geld verdient als mit dem Kauf- und Verkauf von Immo­bi­li­en und allen damit zusam­men­hän­gen­den Dienst­leis­tun­gen. Auch diese Kosten werden letzt­lich auf die Mieter abge­wälzt. Ferner hat Keynes wohl auch nicht bedacht, dass wir heute etwa 10 Prozent unse­rer Arbeits­kraft darauf verwen­den, die stetig stei­gen­de Masse von Vermö­gen, Gutha­ben und Schul­den zu verwal­ten bezie­hungs­wei­se damit zu speku­lie­ren. Die heuti­ge Jugend will nicht mehr Bäcke­rin, Bauar­bei­ter oder Fach­kraft werden, sondern Day-Trader und Finfluen­cer. Da winkt mehr Geld.
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Zu Keynes› Zeiten war der Arbeits­markt vorwie­gend lokal. Arbeit war dort, wo die Menschen und ihre Bedürf­nis­se waren. Heute ziehen die Arbeits­kräf­te dahin, wohin die Multis ihre Jobs verla­gern. Die Arbeit und damit die ganze Gesell­schaft ist mobil gewor­den. Mit der Folge, dass die Kinder nicht mehr von den Nach­barn und den Groß­el­tern gehü­tet werden, sondern von der Kita, dass die Pizza nicht mehr selber geba­cken, sondern vom Kurier­dienst gelie­fert wird, und dass wir uns nicht mehr im loka­len Turn­ver­ein fit halten, sondern im kommer­zi­el­len Studio. Und daran hängt noch ein ganzer Ratten­schwanz von Bewer­bung, Werbung, Perso­nal­ver­mitt­lung, Arbeits­markt­bü­ro­kra­tie, Arbeits­we­gen, Staus et cetera.
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Die Globa­li­sie­rung der Märkte bewirkt auch, dass immer mehr Länder am eige­nen Bedarf vorbei arbei­ten. Die Schweiz oder Deutsch­land etwa erzie­len chro­nisch hohe Export­über­schüs­se und arbei­ten somit per Saldo zu viel. Um den eige­nen Bedarf, etwa an Gesund­heits­per­so­nal, Lehrern oder Kell­nern zu decken, müssen sie Perso­nal aus dem Ausland rekru­tie­ren. Auch die Export­in­dus­trie bezie­hungs­wei­se deren „Human Resour­ces“ rekru­tie­ren gerne global, und ihre starke Lobby sorgt dafür, dass der freie Perso­nen­ver­kehr als «Grund­frei­heit der EU» unan­ge­tas­tet bleibt.
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Wie Expats neue Job-Lücken aufreißen
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Doch auch hier ist mit langen Ratten­schwän­zen zu rech­nen: Die Expats und deren Ange­hö­ri­ge müssen erst einmal instal­liert werden. Allein in der Wohnung und deren Baukos­ten von gut 500.000 Fran­ken stecken etwa fünf Mann­jah­re Arbeit. Dazu kommt der laufen­de Lebens­un­ter­halt. Über den Daumen gepeilt bean­sprucht eine Arbeits­kraft aus der Ober­klas­se deren zwei aus den unte­ren Schich­ten – Nannys, Kitamit­ar­bei­ter, Kurie­re, Gastro­no­mie­per­so­nal. Und da auch dieses Perso­nal über­wie­gend impor­tiert wird, öfter mal in die Heimat zurück­reist und lange Arbeits­we­ge hat, kommt noch sehr viel Trans­port- und Zeit­auf­wand dazu.
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Und Keynes hat auch dies nicht bedacht: Die arbeits­spa­ren­de Effi­zi­enz der Märkte beruht auf Wett­be­werb und Konkur­renz. Die Evolu­ti­on hinge­gen hat uns gene­tisch auf Koope­ra­ti­on, Hilfs­be­reit­schaft und Empa­thie program­miert. Ohne diese „Betriebs­soft­ware“ hätten wir nicht überlebt.
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Dieser Gegen­satz führt zu Span­nun­gen und Fehl­an­rei­zen. Wir fühlen uns nicht wohl in unse­rer Haut. Nach dem Gallup World Poll von 2013 waren nur 13 Prozent der Mensch­heit in ihrem Job wirk­lich enga­giert, 24 Prozent waren desen­ga­giert. Sie waren darauf aus, andere mit ihrer schlech­ten Stim­mung anzu­ste­cken. Dieses Miss­be­ha­gen ist die Geschäfts­grund­la­ge einer riesi­gen Selbst­op­ti­mie­rungs-Indus­trie mit all ihren Coaches, Influen­cern und Schön­heits­chir­ur­gen. Und nicht zuletzt hat die Konkur­renz- und Gewinn­op­ti­mie­rungs­lo­gik des Mark­tes eine Gesund­heits­in­dus­trie hervor­ge­bracht, die nicht auf Heilung, sondern auf perma­nen­tes kontrol­lier­tes Siech­tum setzt: Einmal dick: immer Abnehmsprit­ze; einmal Diabe­tes: immer Insulin.
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Ist die 15-Stun­den-Woche also doch möglich, wenn wir es nur rich­tig anstel­len? Wohl kaum, aber wir soll­ten ernst­haft darüber nach­den­ken, wie wir unsere produk­ti­ven Tätig­kei­ten wieder entschla­cken könn­ten. Und viel­leicht läuft uns dabei das eine oder andere fette Haus­schwein über den Weg.
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PS: Die Rück­kehr des Haus­schweins wäre auch der Anfang vom Ende der Massentierhaltung.
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