Keine Experimente – Scheitern als Chance – Werner Peters

Keine Expe­ri­men­te – mit diesem Wahl­spruch führte die CDU im Jahre 1957 ihren Bundes­tags­wahl­kampf und fuhr das traum­haf­te Ergeb­nis von über 50 Prozent der Stim­men ein.
Dieser Aufruf, eigent­lich mehr eine Warnung, hat offen­sicht­lich damals bei den Deut­schen einen Nerv getrof­fen, der auch noch heute sehr aktiv und reiz­bar ist. Wie anders lässt es sich erklä­ren, dass die Idee einer Minder­heits­re­gie­rung, die ange­sichts der verfah­re­nen Gemenge­la­ge nach der Wahl, dem Ausstieg der FDP aus den Koali­ti­ons­ver­hand­lun­gen und dem kate­go­ri­schen Entschluss der SPD zur Erneue­rung in der Oppo­si­ti­on die vernünf­tigs­te Lösung wäre, in dem immer stär­ker anschwel­len­den Rufen nach Stabi­li­tät und festen Verträ­gen unterging.
Der Deut­sche hat offen­sicht­lich Angst vor poli­ti­schen Expe­ri­men­ten und sucht Schutz im Gewohn­ten, auch wenn die Alter­na­ti­ve ein Kompro­miss auf dem kleins­ten Nenner ist, bei dem alle wirk­lich rele­van­ten Proble­me ausge­klam­mert oder in die Zukunft verscho­ben werden.
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Ein Blick zurück zeigt die gefähr­li­che Neben­wir­kung von einer Poli­tik der Vermei­dung von Expe­ri­men­ten. Vier Jahre nach dem traum­haf­ten Wahl­er­geb­nis von 1957 stürz­te die CDU ab und läute­te mit der erzwun­ge­nen Abdan­kung des wie selbst­ver­ständ­lich eine vierte Amts­pe­ri­ode anstre­ben­den Lang­zeit­kanz­lers Adenau­er (auch eine ominö­se Paral­le­le zur heuti­gen Situa­ti­on?) ihren Nieder­gang ein, der mit dem Verlust der Regie­rung bei der über­nächs­ten Wahl durch eine SPD/FDP-Koali­ti­on besie­gelt wurde, die sich mutig den damals drän­gen­den poli­ti­schen Proble­men und Fragen stell­te, vor allem der Entkramp­fung des Ost/­West-Verhält­nis­ses.
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Selbst bei sehr wohl­wol­len­der Beur­tei­lung der beab­sich­tig­ten Koali­ti­ons­ver­ein­ba­run­gen zwischen CDU und SPD ist von einem muti­gen Aufbruch und einem Bemü­hen, Zukunft zu gestal­ten, nichts zu spüren. Sympto­ma­tisch für das „Weiter so wie bisher“ ist die gleich zu Beginn der Sondie­rungs­ge­sprä­che verkün­de­te „Eini­gung“ darauf, das Klima­schutz­ziel für 2020 aufzu­ge­ben, da man es sowie­so nicht errei­chen könne, ein Einge­ständ­nis des Versa­gens der bishe­ri­gen Koali­ti­on aus SPD und CDU, das offen­sicht­lich auch die Zukunft bestim­men wird. Während selbst so konser­va­ti­ve Länder wie Groß­bri­tan­ni­en einen Kohle­aus­stieg für 2025 verkün­den und sogar China sich, wenn auch für später, ein solches Ziel setzt, wird dieses Thema in den Sondie­rungs­ge­sprä­chen sorg­sam vermie­den. Wenn man schon aus Angst vor der Kohle­lob­by einknickt, hätte viel­leicht die Einfüh­rung einer Geschwin­dig­keits­be­schrän­kung auch auf deut­schen Auto­bah­nen, wenn sie auch nur einen klei­nen Beitrag zum Klima­schutz leis­ten würde, einen Hinweis darauf gege­ben, dass man bereit ist, um großer Ziele willen mutige Schrit­te nach vorn zu tun.
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Minder­heits­re­gie­rung als Befrei­ungs­schlag parla­men­ta­ri­scher Demokratie
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Während die Weiter­füh­rung der Koali­ti­on der Wahl­ver­lie­rer SPD und CDU außer der schein­bar so grund­le­gen­den Stabi­li­tät einer Regie­rungs­mehr­heit sich inhalt­lich ohne Substanz und ohne Fort­schritts­wil­len zeigt, hat sie auch gefähr­li­che Neben­wir­kun­gen für die demo­kra­ti­sche Kultur in Deutsch­land. Neben der zuneh­men­den Frus­tra­ti­on der Bürger über eine in den großen, drän­gen­den Fragen gelähm­ten Poli­tik hat die Große Koali­ti­on auch schäd­li­che Auswir­kun­gen auf den Parla­men­ta­ris­mus. Durch den Eintritt der SPD in die Regie­rung wird die AfD zur größ­ten Oppo­si­ti­ons­frak­ti­on mit all den Privi­le­gi­en, die damit verbun­den sind, insbe­son­de­re dem Recht, als erste im Bundes­tag auf die Erklä­run­gen der Regie­rung zu antwor­ten. Die SPD betont unter ande­rem ihre staats­bür­ger­li­che Verant­wor­tung als einen wich­ti­gen Grund, eine Regie­rungs­mehr­heit zustan­de zu brin­gen. Wäre es nicht auch eine staats­bür­ger­li­che Verant­wor­tung, der AfD die Rolle als Spre­che­rin der Oppo­si­ti­on zu verweigern?
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Das „Expe­ri­ment“ einer Minder­heits­re­gie­rung hätte dage­gen den Parla­men­ta­ris­mus aufge­wer­tet und die Demo­kra­tie gestärkt. Man hat sich inzwi­schen so daran gewöhnt, dass Regie­rungs­bil­dun­gen mit soge­nann­ten Koali­ti­ons­ver­ein­ba­run­gen verbun­den werden, in denen im Detail fest­ge­legt wird, was die Abge­ord­ne­ten der Regie­rungs­par­tei­en im Laufe der Legis­la­tur­pe­ri­ode zu beschlie­ßen haben. Es fällt schon nicht mehr auf, dass hier eine Perver­si­on der parla­men­ta­ri­schen Demo­kra­tie statt­fin­det: Eine kleine Gruppe von Führungs­kräf­ten, die zum Teil nicht einmal dem Bundes­tag ange­hö­ren (Beispiel: NRW-Minis­ter­prä­si­dent Laschet) berät und beschließt das zukünf­ti­ge Gesetz­ge­bungs­pro­gramm, wobei es oft zu grotes­ken Entwick­lun­gen kommt, wenn die Abge­ord­ne­ten eine von ihnen als unsin­nig empfun­de­ne „Herd­prä­mie“, wie in der vorletz­ten Legis­la­tur­pe­ri­ode, oder eine „Auslän­der-Maut“ abseg­nen müssen, weil der Koali­ti­ons­ver­trag und die Frak­ti­ons­dis­zi­plin es nicht zulas­sen, dass die Regie­rung mit einem Geset­zes­vor­schlag nicht durchkommt.
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Eine Minder­heits­re­gie­rung würde wie ein Befrei­ungs­schlag für die parla­men­ta­ri­sche Demo­kra­tie wirken. Die Regie­rung müsste sich zwar für jedes ihrer Vorha­ben eine Mehr­heit suchen, aber genau das ist doch ihre Aufga­be, die Abge­ord­ne­ten davon zu über­zeu­gen, dass ihr Vorha­ben sinn­voll und nütz­lich ist. Es würde das Parla­ment von dem lähmen­den Auto­ma­tis­mus befrei­en, dass die Initia­ti­ven der Regie­rung (die von der Führungs­rie­ge der Partei­en im Koali­ti­ons­ver­trag fest­ge­legt worden sind) von den Regie­rungs­par­tei­en abge­seg­net und von den nicht an der Regie­rung betei­lig­ten Frak­tio­nen abge­lehnt werden. Bei einer Minder­heits­re­gie­rung hätten auch die nicht an der Regie­rung betei­lig­ten Frak­tio­nen die Chance, mit ihren Initia­ti­ven Erfolg zu haben, indem sie eine Mehr­heit im Bundes­tag zusam­men­brin­gen. Die SPD könnte so viel­leicht versu­chen, ihr wich­ti­ges poli­ti­sches Anlie­gen einer einheit­li­chen Kran­ken­ver­si­che­rung durch eine „Koali­ti­on“ der Willi­gen im Bundes­tag durchzubringen.
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Welche Möglich­kei­ten ein solches nicht durch Koali­ti­ons­ver­trä­ge gekne­bel­tes Parla­ment hätte, Zukunft zu gestal­ten, mag man an der erfolg­rei­chen Initia­ti­ve zur Ehe für alle aus dem letz­ten Bundes­tag ablesen.
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Im Übri­gen würde die Entschei­dung für eine Minder­heits­re­gie­rung der amtie­ren­den Kanz­le­rin, deren Zeit ganz offen­sicht­lich abge­lau­fen ist, eine elegan­te Möglich­keit zu einem ehren­vol­len Abgang aus eige­nem Entschluss geben. Sie könnte dieses „Expe­ri­ment“ für die Hälfte der Legis­la­tur­pe­ri­ode ankün­di­gen, an dessen Ende sie ihr Amt nieder­le­gen würde. In diesen andert­halb Jahren könnte man heraus­fin­den, ob ein solches offe­nes Regie­ren möglich ist und man könnte auch dabei in der Praxis prüfen, wo es Schnitt­men­gen mit einem oder mehre­ren Part­ner für eine feste Koali­ti­on gibt.
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Chris­toph Schlin­gen­sief, der Akti­ons­künst­ler und Amateur­po­li­ti­ker, hat am Endpunkt der blei­er­nen letz­ten Kohl-Regie­rung eine Bewe­gung gegrün­det, die er unter das Motto stell­te „Schei­tern als Chance“. Selbst wenn das Expe­ri­ment der Minder­heits­re­gie­rung in der Weise schei­tert, dass weder von der Regie­rung noch aus der Mitte des Binde­ta­ges wich­ti­ge Initia­ti­ven eine Mehr­heit finden oder gar nicht erst entste­hen, kann die Chance, mal auszu­bre­chen aus der sich immer mehr veren­gen­den Routi­ne der Koali­ti­ons­ver­trä­ge, die, wie sich abzeich­net, keinen Raum für große Ziele lassen, nicht hoch genug gewer­tet werden. Wenn die unsere Demo­kra­tie tragen­den Volks­par­tei­en CDU und SPD nicht weiter an poli­ti­scher Bedeu­tung verlie­ren sollen, müssen sie die ausge­tre­ten Wege des „Keine Expe­ri­men­te“ verlas­sen und selbst ein Schei­tern als Chance begreifen.
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