Inklusion? Da war doch was – Pat Christ
Das Hinnehmen der aktuell brachialen Ausgrenzungsprozesse verstört zutiefst
Menschen zu sortieren, das hat die Welt von gestern geprägt: Spätestens seit der deutschen Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) 2009 lautet die Devise „Inklusion“. Seitdem wurden inklusive Betriebe geschaffen. Inklusive Klassen eingerichtet. Vor allem aber wurde der Gedanke „Inklusion“ in den Köpfen verankert. All das scheint für die Katz gewesen zu sein. Wird doch aktuell mit einer Brachialität exkludiert, die vor zwei Jahren undenkbar gewesen wäre.
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Und kein einziger Fürsprecher der Inklusion, den ich in den letzten zehn Jahren interviewt habe, begehrt vehement auf. Jedenfalls hätte ich nichts davon mitbekommen. Normalerweise bekomme ich so etwas mit. Seit über 25 Jahren recherchiere ich im „Sozialen Bereich“. Ich habe eben mal mein Artikelarchiv seit September 2011 durchforstet. In 313 der seit damals von mir verfassten Beiträge taucht das Wort „Inklusion“ auf. Es geht zum Beispiel um das Miteinander von behinderten und nicht-behinderten Kindern in der Schule. Um die Inklusion von seelisch Erkrankten. Von HIV-Patienten. Ehemaligen Strafgefangenen. Geflüchteten. Wohnungslosen. Armen.
Ich schrieb, dass die UN-BRK noch immer viel zu lax gehandhabt wird. Dass es noch immer zu viele Sondereinrichtungen gibt. Zu viele Sonderregelungen.
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Zu viel Aussonderung. Ich schrieb auf Basis Dutzender Interviews, dass Menschen nicht (in erster Linie) behindert sind. Sondern dass sie behindert werden. Ich schrieb, dass es nicht darum gehen darf, sich mit seiner Besonderheit an die Umgebung anzupassen. Sondern dass sich die Umgebung gefälligst ändern muss. Keine Treppen mehr. Daran scheitern Rollifahrer. Keine kompliziert gedrechselten Sätze. Daran scheitern Menschen mit Lernbehinderung. Es wurden denn auch nach und nach Barrieren abgebaut.
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Jahrelang hatten wir gesellschaftlich ein Problem erörtert, dass zuvor jahrzehntelang unglaubliches Leid verursacht hat. Menschen mit Handicap waren in Heimen eingesperrt. Menschen mit HIV wurden stigmatisiert. Menschen mit Besonderheiten litten unter permanenter Ausgrenzung. Gar nicht zu reden von jenen Zeiten, als man „Andere“ einfach umgebracht hat. Durch die UN-BRK hatte sich vieles verbessert. Man begriff vor allen Dingen: Es geht! Es ist möglich, dass alle zusammenleben. Jeder auf seine Weise. Jeder mit seiner Art.
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Indiz für Menschlichkeit
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Der Grad der Inklusivität galt bisher als ein Indiz für die Menschlichkeit der jeweiligen Gemeinschaft. Der jeweiligen Organisation. So jedenfalls erschien es mir. Es wurden Inklusionsprojekte gewagt, die 20 Jahre davor noch als komplett verrückt angesehen worden wären. All das scheint vergessen. Von all dem scheint nichts mehr übrig geblieben zu sein. Es gibt eine neue Quasipflicht, die Bürger zu erfüllen haben, um Menschen erster Klasse zu bleiben: Sie haben das Vakzin zu nehmen. Wer das nicht tut, wird ausgegrenzt. Auf immer brutalere und immer perfidere Weise. Mich macht das fassungslos. Habe ich in den letzten 25 Jahren irgendetwas nicht begriffen?
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Wo sind jene, die einst beim Diskussionsabend vehement dafür plädierten, alle, aber auch wirklich alle Sondereinrichtungen aufzulösen? Wo sind jene, die unermüdlich klar machten, dass Integration nicht genügt? Dass es darum geht, dass alle von Anfang an Teil der Gemeinschaft sind – ganz egal, welche Fähigkeiten sie haben. Ganz egal, welcher Überzeugung sie sind – so ihre Überzeugungen im Einklang mit den Menschenrechten stehen. Wo sind die einstigen Kämpfer, um darauf hinzuweisen, dass es nach wie vor und gerade in dieser Krise unsere Aufgabe ist, die Gesellschaft so zu gestalten, dass alle frei, vor allem angstfrei, auf ihre Weise in ihr leben können?
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Ich wehre mich dagegen, zu glauben, dass früher alles aus Jux und Tollerei geschah. Ich wehre mich dagegen, zu glauben, dass gewisse Menschen sich nur profilieren wollten, indem sie für Inklusion stritten. Ich glaube, dass Inklusion jenen Menschen, denen ich in den letzten Jahren begegnet bin, tatsächlich ein Herzensanliegen war. Jedenfalls für die meisten. Bei manchen vermute ich, dass sie, auch wenn man dies auf den ersten Blick nicht sieht, selbst Ausgrenzungserfahrungen hinter sich haben. Dass sie am eigenen Leib erlebt haben, wie es ist, nicht dazuzugehören. Plötzlich auf Ablehnung zu stoßen.
Der gute Wille fehlt
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Wo sind sie jetzt, die durch Crowdfunding versucht haben, auf eigene Initiative Inklusion zu ermöglichen, weil sich die öffentliche Hand finanziell sperrte? Wo sind sie, die einst mutig protestierten? Die Anti-Preise für besonders exkludierendes Verhalten verliehen haben? Ich bin einfach nur sprachlos. Und sage mir keiner, es wäre in der aktuellen Situation nicht drin, das uns Umgebende so zu gestalten, dass Inklusion möglich wäre. Dutzende kreativer Projekte aus der „guten Zeit“ haben immer wieder bewiesen, wie unglaublich viel möglich ist. Sie haben immer wieder gezeigt, dass es in aller Regel nur an einem einzigen hapert: Am guten Willen. An Mitmenschlichkeit.
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