Initiation in eine Lebendige Erde – Charles Eisenstein
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Gesellschaften können auch eine Initiation durchlaufen. Der Klimawandel ist für die gegenwärtige globale Zivilisation eine solche. Es handelt sich dabei nicht bloß um ein „Problem“, das wir aus der gegenwärtig vorherrschenden Weltanschauung und deren Lösungssätzen erschließen können, sondern es fordert uns auf, eine neue Geschichte der Menschen und eine neue (und alte) Beziehung zum Rest des Lebens zu kultivieren.
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Ein Schlüsselelement dieser Transformation ist der Weg, von einem geomechanischen Weltbild zu einem Weltbild der „Lebendigen Erde“ (Living Planet) zu kommen. In meinem letzten Aufsatz habe ich argumentiert, dass die Klimakrise nicht durch die Justierung der atmosphärischen Gase gelöst werden kann, so als würden wir mit dem Luft-Kraftstoff-Gemisch eines Dieselmotors herumspielen. Vielmehr kann eine lebendige Erde nur gesund sein – kann in Wahrheit nur leben – wenn ihre Organe und Gewebe lebenskräftig und gesund sind. Diese umfassen die Wälder, den Boden, die Feuchtgebiete, die Korallenriffe, die Fische, die Wale, die Elefanten, die Seegraswiesen, die Mangrovensümpfe und alle anderen Systeme und Arten der Erde. Wenn wir sie weiter beschneiden und zerstören, würden wir selbst dann, wenn wir die Emissionen über Nacht auf null reduzieren würden, wegen Millionen von Verletzungen immer noch den Tod erleiden.
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Das ist so, weil es das Leben selbst ist, das die Bedingungen für das Leben erhält. Seine vom Menschen nur unklar verstandenen Prozesse sind so komplex wie jede Art lebendiger Physiologie. Vegetation produziert flüchtige Verbindungen, die die Bildung von Wolken fördern, die wiederum das Sonnenlicht reflektieren. Megafauna transportiert Stickstoff und Phosphor über Kontinente und Ozeane, den Kohlenstoffkreislauf aufrechterhaltend. Wälder erzeugen eine „biotische Pumpe“ mit dauerhaft niedrigem Druck, die Regen in kontinentale Räume bringen und atmosphärische Strömungsmuster aufrechterhalten. Wale bringen Nährstoffe aus den Tiefen des Ozeans und nähren damit Plankton. Wölfe kontrollieren die Hirschpopulationen, so dass die Waldebene zwischen Boden und Kronenbereich lebensfähig bleibt, die Regenaufnahme fördert und Dürre und Feuer verhindert werden. Biber verlangsamen den Wasserzufluss von Land zum Meer, sie puffern Überschwemmungen und modulieren den Schlammabfluss in Küstengewässer, so dass dort Leben gedeihen kann. Myzel-Matten binden große Gebiete in einem neuronalen Netzwerk zusammen, das in seiner Komplexität das des menschlichen Gehirns übersteigt. Und all diese Prozesse greifen ineinander.
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In meinem Buch „Climate – A New Story“ behaupte ich, dass ein Großteil der Klimakatastrophen, die wir den Treibhausgasen zuschreiben, tatsächlich von einer direkten Störung der Ökosysteme herrührt. Es passiert seit Jahrtausenden: Dürre und Wüstenausbreitungen waren überall dort zwangsläufige Folgen, wo Menschen Wälder gerodet und Böden der Erosion ausgesetzt haben.
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Der Ausdruck „Störung der Ökosysteme“ klingt wissenschaftlich im Vergleich zu „Lebewesen Schaden zufügen und töten“. Aber aus der Sicht des Lebendigen Planeten ist letzteres genauer. Ein Wald ist nicht nur eine Ansammlung von lebenden Bäumen – er ist selbst lebendig. Der Boden ist nicht nur ein Medium, in dem das Leben wächst; der Boden lebt. Gleichermaßen leben auch ein Fluss, ein Riff und ein Meer. Genauso wie es viel einfacher ist, eine Person zu erniedrigen, auszubeuten und zu töten, wenn man das Opfer als menschlich wertloser ansieht, so ist es auch einfacher, die Wesen der Erde zu töten, wenn wir sie bereits als unbelebt und ohne eigenes Bewusstsein betrachten. Die Kahlschläge, die Tagebaue, die entwässerten Sümpfe, die Ölverschmutzungen usw. sind unvermeidlich, wenn wir die Erde als ein totes Ding, als unsensibel, als einen instrumentalisierbaren Haufen von Ressourcen betrachten.
Unsere Geschichten sind mächtig. Wenn wir die Welt als tot betrachten, werden wir sie töten. Und wenn wir die Welt als lebendig sehen, werden wir lernen, wie wir ihrer Heilung dienen können.
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