Ein positives Umfeld ist ansteckend – Editorial
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Ein Jahresrückblick 2020, ohne auf Corona einzugehen, wäre sonderbar. Die Welt wurde durch die Pandemie in eine chaotische Lage gestürzt. Unerfreuliche Entwicklungen wegen des bedrohlichen Klimawandels und einer Vielzahl sozialer und ökonomischer Unwuchten gab es zuvor bereits reichlich. Dann tauchte über Nacht auch noch dieses Virus auf.
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Die Besonderheit von Epidemien ist die Übertragung durch Ansteckung. Sie ist unvermeidbar, weil Menschen soziale Wesen sind. Keiner weiß genau, wann und wo man sich infizieren kann. Schlagartig lauert eine unsichtbare Gefahr. Unsere Köper verfügen über Abwehrmechanismen, aber sobald unbekannte Feinde auftauchen, kann es zu fatalen Komplikationen kommen. Die nötigen Verhaltensänderungen zur Eindämmung einer totalen Katastrophe haben persönliche und gesellschaftliche Auswirkungen. Eine Grundannahme bei den politischen Maßnahmen lautet unter anderem: Menschenleben können nur gerettet werden, indem man gewisse Gefahrensituationen weitestgehend vermeidet. Davon betroffen sind private und geschäftliche Konstellationen. Den vorzeitigen Tod oder die schwere Erkrankung von Familienmitgliedern will niemand ertragen müssen. Selbst wenn man im Detail über die konkrete Umsetzung streiten kann, bleibt die Zielvorgabe korrekt. Tote reißen nicht nur verhängnisvolle Lücken in Familien und hinterlassen Verzweiflung; sie können auch nicht einkaufen oder anderweitig am Wirtschaftsleben teilnehmen. Wer die wirtschaftlichen Folgen im Blick hat, könnte sagen:
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„Aber die Maßnahmen sind vollkommen überzogen und stürzen Leute ins Verderben, weil ihre materielle Existenz durch die Unterbrechung der Wirtschaft vernichtet wird. Es entstehen ‚Kollateralschäden‘, die weitaus tiefergehende Zerstörungen nach sich ziehen.“
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Ein nicht einfach beiseitezuschiebendes Argument. Aber Hand aufs Herz: Wer traut sich, in dieser Gesamtlage Verantwortung zu übernehmen und Entscheidungen zu treffen, die, egal wie man es anstellt, am Ende unausweichlich viele Opfer verursachen?
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Der im März eingetretene erste Katastrophenfall offenbarte, dass wir es als Gesellschaft nicht schafften, uns darauf vorzubereiten. Selbst zwischen den beiden Lockdowns geschah viel zu wenig Präventives und Beschützendes. Ein Argument dabei ist immer Geld. Geld, das nicht vorbeugend ausgegeben oder auf eine Weise eingesetzt wurde, damit die unentbehrlichen Funktionen des Gesellschaftslebens geschützt und lebensnotwendige Infrastruktur einsatzfähig gehalten werden konnten. Dieser Mangel ist Ergebnis von jahrzehntelang anders gesetzten Prioritäten. Es gibt Bereiche, die zwangsläufig marode werden müssen, wenn sie unter das Primat von Kapitalrentabilität gestellt werden. Dazu gehören viele öffentliche Aufgaben, wie Zugang zu Bildung, Mobilität, Energie, Stadtplanung, das Gesundheitswesen u. v. m. Krankenhäuser müssen in erster Linie wirtschaftlich rentabel und effizient arbeiten. Das bedeutet, Erzielung höchstmöglicher Umsätze bei geringstmöglichen Kosten. Daraus können Personalreduzierung, Billiglöhne, mangelhafte Leistungen und minderwertiger Service resultieren.
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Was am Ende bleibt, belegen Beispiele aus den genannten Bereichen. Wie destruktiv diese Ausrichtung ist, zeigt sich auch in der unverständlichen Unterbezahlung von „systemrelevanten“ Berufen.
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Ansteckung war das Stichwort. Es gibt sie ebenso im Wirtschaftsleben. Kaum etwas ist attraktiver als ein Bonus, den man ohne Anstrengung erhält. Die Aussicht auf ökonomische Renten hat Ansteckungspotential. Wer Gespartes gewinnbringend anlegen will, begibt sich in die Sphären der Rentenökonomie. Dort winkt die weitere Vermehrung, ohne dass man dafür selbst tätig werden muss. Wer kennt ihn nicht: den Traum vom finanziell sorgenfreien Leben? Den verlässlichen Rahmen dieses Anlagekosmos bilden Gesetze, in erster Linie Eigentumsrechte. Mit deren Anwendung lassen sich Gewinnansprüche geltend machen. Je ausgeprägter das in Summe geschieht, je schädigender ist es für das Gesamtsystem.
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Das süße Gift geschenkten Geldes ist ansteckend. Ein darauf aufgebautes Wirtschaftssystem entwickelt sich in unauffälligen Schritten hin zu immensen Geldvermögen in den Händen Weniger. „Zu keinen früheren Zeiten möglich war, weder in den Wäldern Neuseelands, den Savannen des Sudans oder in den Bergen Alaskas, dass Hunger oder fehlende lebensnotwendige Bedürfnisse zusammen mit Überfluss an Nahrung und Reichtum im gleichen Dorf zusammen vorkamen.“ Das ist im Kapitalismus aber an nahezu jedem Ort der Welt der Normalfall.
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Mittlerweile wird durch wissenschaftliche Studien deutlicher, in welchem Maße die globalisierte Wirtschaft mitverantwortlich an der Verbreitung des Coronavirus ist. Der Umwelteingriff mit der Ressourcenausbeutung und der damit verbundenen Einverleibung der Naturgüter in die kapitalistische Verwertung hat komplexe Folgen. Das Artensterben bedroht die Menschheit. Die Einbuße an Biodiversität ist dramatisch und ein globales Phänomen. Eine Schwächung natürlicher Vielfalt mit ungeahnten Konsequenzen. Man kann sich des Eindrucks nicht verschließen, wonach die so verschieden erscheinenden „Ansteckungen“ einander bedingen.
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Grundlegende Systemänderungen, mit zum Teil radikal korrigierten Rahmenbedingungen, sind unabdingbare Voraussetzung für ein Wirtschaftsklima mit neu definierten Prioritäten.
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Ändern sich die Bedingungen, dann ändern sich die Menschen. Eine humane Wirtschaft mit Verantwortung für Klima und Umwelt ist realisierbar. Humane Wirtschaft ist ansteckend.
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Bleiben Sie gesund und uns gewogen.
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Herzlich Ihr Andreas Bangemann
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