Diese verrückten Deutschen – Gero Jenner
- – - Sie lieben das Ideal mehr als die Wirklichkeit – vielleicht deshalb, weil man sich in der Wirklichkeit mit Tatsachen arrangieren muss, während man die Ideale so mühelos in Wolkenkuckucksheimen ansiedeln kann? Sie lieben das Denken mehr als die Rücksicht auf ihre Nächsten, denn im Denken ist der Mensch ungebunden; das Denken kennt keine anderen Grenzen als jene, die es sich selber setzt. Vielleicht hat ihnen der unglücklich-hellsichtige Dietrich Schwanitz deswegen mangelnde Höflichkeit als hervorstechende Eigenschaft zugeschrieben. Denn ihre Meinungen stellen sie ungern unter den Scheffel, gleichgültig ob man sie hören will oder nicht.
- – - In den Augen ihrer Nachbarn waren sie stets ein Volk der Extreme
- – - Gefürchtet wegen ihrer Unberechenbarkeit. In der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts lebten sie noch in etwas größeren Dörfern: Goethes Weimar zählte 1786 gerade einmal 6.200 Seelen, wovon ein ganzes Drittel der fürstlichen Verwaltung angehörte, also von Steuern lebte. Damals waren die Deutschen verträumte Romantiker und echte Idealisten, die in einer Welt der verzopften Duodezfürsten der Politik den Rücken kehrten. Mit ihrem Schwelgen in den Wonnen der Innerlichkeit schirmten sie sich gegen die andrängende Moderne ab, die in Gestalt des von ihnen verabscheuten Handels- und Fabrikantengeistes aus England gerade zu ihnen hinüberschwappte.
- – - Doch schon in der zweiten Hälfte desselben Jahrhunderts gelangte ein ganz anderer Menschenschlag zur Macht: die Realisten. In kürzester Zeit machte der rechnend-bürokratische Geist der siegreichen Industrialisierung die Deutschen aus wild spekulierenden Träumern zu eiskalten Tatsachenmenschen. Bereits gegen Ende des Jahrhunderts hatte sich Deutschland zu einer Industriemacht entwickelt – zu einer führenden noch dazu, welche ihren einstigen Lehrmeister, die Weltmacht England, im Eiltempo überrundete. Da war Innerlichkeit nicht länger gefragt – in Fabrik und Büro hatte sie nichts zu suchen. Man lagerte sie stattdessen in Elfenbeintürme aus: in all die vielen klassizistischen Konzertsäle und Theater, wovon die Deutschen mehr besitzen als jedes andere Volk – die Deutschen über sechzig, wie man im Blick auf die heutige Zeit realistischerweise hinzufügen muss.
- – - Die Absage an den romantischen Idealismus
- – - zugunsten eines berechnenden Ökonomismus, der bei der extremen Linken zu einem militanten Materialismus gesteigert wurde, machte aus braven Untertanen der jeweils herrschenden politischen Macht (hatte man den Deutschen nicht geradezu eine Unfähigkeit zur Revolution nachgesagt?) ein Volk von Nationalisten, welche die eigene Bedeutung bald pedantisch genau in Butter und Kanonen berechneten. Der weltoffene Kosmopolitismus ihrer großen Dichter und Philosophen bis hin zu Nietzsche (der allerdings die Verfälschung durch die eigene Schwester und später durch die Nazis erdulden musste) schlug schnell in bramarbasierenden Chauvinismus um. Jener unselige Wettstreit der Nationen, der, wie man damals glaubte, nur dem Stärksten das Überleben gestatten wird, fand – obwohl im England Darwins und Spencers geboren – in Deutschland einen mächtigen Widerhall.
- – - Vom Kosmopolitismus zum Nationalismus
- – - Die Extreme der deutschen Befindlichkeit sollten sich nicht nur in zeitlicher Folge ablösen, oft stießen und stoßen sie zur gleichen Zeit hart aufeinander. Vor Ausbruch des ersten Weltkriegs beherbergte Deutschland die größte und lebendigste Friedensbewegung Europas – vereint vor allem durch Bertha von Suttner. Zur selben Zeit aber bewunderte eine Mehrheit der Deutschen die allgegenwärtigen, pickelhaubenbewehrten Militaristen, die im Krieg das wichtigste Mittel für den Aufstieg der Nationen zu der ihnen gebührenden Größe sahen.
- – - Bei diesem Gegensatz der einander oft bis aufs Blut befehdenden Extreme und Extremisten ist es bis heute geblieben; ja, wer auch nur einen Blick in die mit äußerster verbaler Schärfe geführten Scheißstürme (shitstorms) der Internetforen wirft, wird sich davon überzeugen, dass die Extreme sich während der letzten Jahre wieder besonders verschärfen. Blindheit für die Anforderungen des Hier und Jetzt trifft da mit einer Neigung zu abstraktem Denken zusammen, das sich mit Vorliebe für die entferntesten Probleme enthusiasmiert. Ich hatte eine ähnliche Erfahrung schon in meiner Zeit als Student in Hamburg gemacht, wo ich unter dem erbärmlich Mensafraß litt, ohne auch nur ein einziges Mal zu erleben, dass die Studenten dagegen aufbegehrt hätten. Stattdessen protestierten sie gegen den Vietnamkrieg auf der anderen Seite des Globus.
- – - Warum ist den Deutschen das Nahe immer so fern, während sie andererseits das Bedürfnis treibt, gerade das Fernste ganz nah zu machen? Niemand scheint in den Sinn zu kommen, dass die Aufgaben im Hier und Jetzt liegen sollten, zum Beispiel in der Verbesserung des Mensaessens und überhaupt darin, dass man die Zustände im eigenen Staat und in der eigenen Stadt möglichst vorbildlich gestaltet, bevor man sich mit den Menschen und der Welt jenseits der Grenzen befasst.
- – - Die Lust an der Selbstgeißelung
- – - Doch da stößt man eher auf taube Ohren. Wenn es um den eigenen Lebensbereich geht, scheint unter manchen heutigen Intellektuellen die Meinung vorzuherrschen, dass es ohnehin zwecklos sei, eine Vorbildfunktion anzustreben, der Karren sei doch längst in den Dreck gefahren. Haben Deutschland, so sagen sie, und das übrige Europa die restliche Welt nicht aufs Schlimmste ausgebeutet und tun es immer noch? Wenige andere haben so überzeugend und wahrheitsgemäß über die Sünden westlicher Länder gegenüber dem Rest der Welt geredet wie der Schweizer Jean Ziegler. Trotzdem sehe ich in der Litanei solcher Selbstbezichtigungen eine neue Art von Extremismus, der an die Stelle jenes früheren getreten ist, wonach der Welt vermeintlich gar nichts Besseres blühen könne als jenes vermeintliche Genesen, das sich auf Wesen reimt – deutsches Wesen, wie man es einmal verstand.
- – - Ich möchte nicht bestreiten, dass Selbstbezichtigungen moralisch akzeptabler sind als die Aufblähung des eigenen Selbst; von einem höheren Maß an Wirklichkeitssinn zeugt solche Selbstgeißelei trotzdem nicht. Denn für den Kenner der geschichtlichen Wirklichkeit stellt sich denn doch die Frage, ob es je starke Staaten gegeben hat, die, wenn sie nur konnten, nicht mit gleicher Rücksichtslosigkeit gegen die Schwächeren verfuhren? Afrika war in der Vergangenheit ein sehr schwacher Kontinent. Als man billige Arbeitskräfte für Plantagen brauchte, taten Europäer und Amerikaner dasselbe wie vorher Römer und Griechen. Sie haben Millionen von Menschen versklavt. Das bleibt ein schwarzer Fleck der gemeinsamen Geschichte, aber es macht die Opfer nicht zu Heiligen. Denn es waren schwarze Regenten, die ihre eigenen Landsleute en masse an arabische und europäische Händler verschacherten.
- – - Das ist freilich Schnell von gestern, aber das größte Verbrechen spielt sich gerade vor unseren Augen ab: der Klimawandel. Auch dafür trägt der Westen zweifellos die Verantwortung – ohne die Industrialisierung und ihre Folgen würde Afrika nicht unter zunehmender Dürre leiden. Aber hat irgendjemand zu Beginn dieser großen Transformation deren Auswirkungen vorausahnen können, und sind aufholende Entwicklungsländer wie China nicht längst die schlimmsten Umweltsünder?
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