Die überforderte „unsichtbare Hand“ – Siegfried Wendt

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1. Der Ursprung der Metapher 

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Viele der wirt­schafts­po­li­ti­schen Entschei­dun­gen der zurück­lie­gen­den Jahr­zehn­te waren geprägt durch die Idee von der „unsicht­ba­ren Hand“. Diese Meta­pher wird in Wiki­pe­dia wie folgt erklärt:
Die unsicht­ba­re Hand ist ein meta­pho­ri­scher Ausdruck, mit dem der schot­ti­sche Ökonom und Moral­phi­lo­soph Adam Smith (1723 – 1790) die unbe­wuss­te Förde­rung des Gemein­wohls beschrieb. Wenn alle Akteu­re an ihrem eige­nen Wohl orien­tiert seien, führe eine ange­nom­me­ne teil­wei­se oder voll­stän­di­ge Selbst­re­gu­lie­rung des Wirt­schafts­le­bens zu einer opti­ma­len Produk­ti­ons­men­ge und ‑quali­tät sowie zu einer gerech­ten Vertei­lung. […] Am bekann­tes­ten und das heuti­ge Verständ­nis prägend ist ohne Zwei­fel die Verwen­dung der Meta­pher im 1776 erschie­ne­nen Werk „Der Wohl­stand der Nationen“.

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2. Die Unbrauch­bar­keit der Meta­pher als Dogma 

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Die Idee von der unsicht­ba­ren Hand ist im heute domi­nie­ren­den Neoli­be­ra­lis­mus zum Dogma geworden:

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Ohne zentra­le Steue­rung führen eigen­nüt­zi­ges Handeln der Menschen und freier Wett­be­werb in einer Volks­wirt­schaft zum größt­mög­li­chen Wohl­stand. Jeder macht, was er am besten kann und bietet seine Waren oder Diens­te ande­ren an. Der Staat hat in der Wirt­schaft nichts verloren.
Zur Vertei­di­gung dieses Dogmas wird immer wieder das Argu­ment gebracht, das sog. deut­sche Wirt­schafts­wun­der nach dem Ende des zwei­ten Welt­kriegs und der seit­her stetig gestie­ge­ne Wohl­stand großer Teile der Erdbe­völ­ke­rung seien darauf zurück­zu­füh­ren, dass in der Wirt­schafts­po­li­tik dieses Dogma konse­quent beach­tet wurde. Wer so argu­men­tiert, begeht den immer wieder beob­acht­ba­ren Fehler, vom Verlauf einer Erschei­nung in einem begrenz­ten Zeit­in­ter­vall auf den Verlauf in der unbe­grenz­ten Zukunft zu schlie­ßen nach dem Motto „Eine Regel, die schon so lange galt, wird auch in Zukunft gelten.“ Der Wirt­schafts­ver­lauf seit dem Ende des zwei­ten Welt­kriegs bis heute zeigt aber ganz deut­lich, dass die posi­ti­ven Effek­te des Neoli­be­ra­lis­mus nur bis Anfang der Sieb­zi­ger­jah­re wirk­sam waren, also nur so lange, bis die Nach­kriegs­man­gel­wirt­schaft über­wun­den war. Danach zeig­ten sich immer deut­li­cher die nega­ti­ven Effek­te dieser Wirtschaftsphilosophie.

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Es sind vor allem zwei Gründe, weshalb solche nega­ti­ven Effek­te in zuneh­men­dem Maße aufge­tre­ten sind und weiter auftre­ten. Der eine Grund besteht in den Wech­sel­wir­kun­gen zwischen dem Wirt­schafts­sys­tem auf der einen Seite und allen ande­ren poli­ti­schen Vorgän­gen, die von den Regie­run­gen zu verant­wor­ten sind, auf der ande­ren Seite. Der andere Grund besteht darin, dass ein beträcht­li­cher Teil der Bürger nicht das Ideal erfüllt, das Goethe so einpräg­sam formu­liert hat: „Edel sei der Mensch, hilf­reich und gut!“ Deshalb braucht es Geset­ze, Poli­zis­ten und Gerich­te, die verhin­dern, dass egois­ti­sche Akteu­re das Wirt­schafts­sys­tem in ihrem Sinne zu Lasten ihrer Mitmen­schen missbrauchen.

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Zwar haben die Neoli­be­ra­len dem Staat zuge­stan­den, einzu­grei­fen, wenn Wirt­schafts­teil­neh­mer die Frei­hei­ten des Systems zu offen­sicht­lich krimi­nel­len Machen­schaf­ten nutzen wie beispiels­wei­se Steu­er­hin­ter­zie­hung oder Kartell­ab­spra­chen. Aber wie im Sprich­wort vom Deckel, der erst auf den Brun­nen gesetzt wird, wenn das Kind schon hinein­ge­fal­len ist, kommen diese Staats­ein­grif­fe prak­tisch immer zu spät.

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3. Unvoll­stän­di­ge Liste von Fehlentwicklungen 

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So unter­schied­lich die im Folgen­den beschrie­be­nen Fehl­ent­wick­lun­gen sind, verbin­det sie doch ein gemein­sa­mes Prin­zip: In all diesen Fällen ist ein natür­li­ches Maß verlo­ren gegan­gen. Alle Formen des mensch­li­chen Zusam­men­le­bens begin­nen – wie alle orga­ni­schen Syste­me – als kleine Einhei­ten, die wach­sen können. Wenn ein solches System gesund ist, wird sein Wachs­tum mit der Zeit durch natür­li­che Wachs­tums­hem­mer in zuneh­men­dem Maße gebremst, bis schließ­lich das Wachs­tum zum Still­stand kommt. Wenn die Wachs­tums­hem­mer ausfal­len, kommt es zu krebs­ar­ti­gen Wuche­run­gen, die letzt­lich zum Tod des Systems führen.

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Dieses Prin­zip ist übri­gens auch Thema des Buches von Leopold Kohr, welches zuerst 1957 in engli­scher Spra­che erschien: Das Ende der Großen – Zurück zum mensch­li­chen Maß.

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Es ist Aufga­be des Staa­tes, als jewei­li­ger Wachs­tums­hem­mer zu wirken. Die unsicht­ba­re Hand ist mit dieser Aufga­be überfordert.

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3.1 Ausbeutung 

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Was ich meine, wenn ich hier von Ausbeu­tung spre­che, ist in Abbil­dung 1 veran­schau­licht. Ende des Jahres 2021 lebten auf der Erde 7,8 Milli­ar­den Menschen. Der Wert der von diesen Menschen im Jahr 2021 geschaf­fe­nen Wirt­schafts­gü­ter betrug 84 Billio­nen US-Dollar. Der Grad der Ausbeu­tung folgt aus den Zahlen in der unte­ren grünen Tabel­len­zei­le. Diese Zahlen findet man aller­dings nicht in den Statis­ti­ken, die im Inter­net zum Thema Wirt­schafts­po­li­tik ange­bo­ten werden. Ich konnte aber Nähe­rungs­wer­te herlei­ten aus den Statis­ti­ken über die Anzahl der Milli­ar­dä­re und Millio­nä­re welt­weit und deren durch­schnitt­li­che Vermö­gen. Deshalb habe ich die daraus abge­lei­te­ten Zahlen durch den Hinweis „geschätzt“ gekenn­zeich­net. Selbst wenn diese Zahlen grob nach oben oder unten von der Reali­tät abwei­chen, bleibt doch die zentra­le Aussa­ge davon unbe­rührt, dass es eine extrem kleine Gruppe von Menschen gibt – weni­ger als 0,1 Promil­le der Mensch­heit -, die fast nichts zur Wirt­schafts­leis­tung beitra­gen, aber über zwei Prozent der von allen ande­ren Menschen geschaf­fe­nen Wirt­schafts­wer­te unter sich aufteilen.

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Der rechts unten in der Tabel­le stehen­de Ausbeu­tungs­in­dex gibt an, um wieviel im Durch­schnitt ein Ausbeu­ter mehr bekommt als ein Ausgebeuteter. 

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Wer die Situa­ti­on vertei­di­gen wollte, könnte darauf hinwei­sen, dass den Ausge­beu­te­ten ja immer noch über 97 Prozent der von ihnen geschaf­fe­nen Werte zur Nutzung verblei­ben, so dass, wenn es die Ausbeu­tung gar nicht gäbe, der einzel­ne Ausge­beu­te­te nur knapp 2,5 Prozent mehr bekäme als vorher.

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Wer so argu­men­tiert, der sieht nicht oder verschweigt bewusst den Zusam­men­hang zwischen Vermö­gens­ver­tei­lung und Macht­ver­tei­lung. Dieser Zusam­men­hang ist darin begrün­det, dass sich die Arbeits­plät­ze, an denen die Ausge­beu­te­ten ihren Lebens­un­ter­halt verdie­nen, zum über­wie­gen­den Teil im Besitz der Ausbeu­ter befin­den. Deshalb können die Ausbeu­ter immer wieder ihre Regie­run­gen mit der Drohung erpres­sen, es würden Arbeits­plät­ze verlo­ren gehen, falls die anste­hen­den poli­ti­schen Entschei­dun­gen nicht so gefällt werden, wie es die Ausbeu­ter wünschen. So kommt es zu der trau­ri­gen Situa­ti­on, dass auch die Arbeit­neh­mer wegen des ange­droh­ten Arbeits­platz­ver­lus­tes die Erpres­ser unter­stüt­zen und auf diese Weise ihr eige­nes Ausge­beu­tet­wer­den fördern.

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3.2 Hyper­in­fla­ti­on der Information 

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Meine Groß­el­tern haben noch die „Hyper­in­fla­ti­on“ von 1923 erlebt. Von ihnen stam­men noch ein paar Geld­schei­ne in meinem Archiv, auf denen Werte von mehre­ren Millio­nen Mark aufge­druckt sind, obwohl man damals dafür nur noch ein Pfund Brot oder ein Glas Bier bekam. Eine vergleich­ba­re Hyper­in­fla­ti­on erle­ben wir inzwi­schen bezüg­lich des Wertes von Informationen. 

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Infor­ma­ti­on ist Wiss­ba­res, also das, was man braucht, um bestimm­te Fragen beant­wor­ten zu können. Es gibt drei unter­schied­li­che Möglich­kei­ten, Wissen zu erwer­ben, nämlich
durch die sinn­li­che Wahr­neh­mung eines Sach­ver­halts, oder durch den Empfang einer Mittei­lung, oder durch logi­sches Schlie­ßen aus bereits vorhan­de­nem Wissen.

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Die durch Wahr­neh­mung – sehen, hören, riechen, schme­cken, ertas­ten – aufnehm­ba­ren Infor­ma­tio­nen stehen in unend­li­chem Umfang zur Verfü­gung, denn es handelt sich dabei um alles, was wir in unse­rer Umwelt mit unse­ren Sinnes­or­ga­nen wahr­neh­men können. Der über­wie­gen­de Teil dieser Infor­ma­tio­nen ist aber für uns irrele­vant, denn niemand hat einen Nutzen davon zu wissen, wie viele Blät­ter dieser oder jener Baum hat, oder ob ein Eich­hörn­chen gestern bei Tages­an­bruch über einen bestimm­ten Weg im Stadt­park rannte. 

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Anders liegt der Fall bei durch Mittei­lung empfan­ge­nen Infor­ma­tio­nen, denn der Sender würde eine Infor­ma­ti­on nicht mittei­len, wenn er nicht über­zeugt wäre, dass sie für den Empfän­ger rele­vant ist. Die primi­tivs­te Form von Mittei­lung besteht in inter­pre­tier­ba­rer Gestik. Opti­sche Sach­ver­hal­te wurden schon sehr früh in Form von Zeich­nun­gen und Gemäl­den mitge­teilt. Erst die Entste­hung von Spra­chen und danach von Schrif­ten brach­te die Möglich­keit, formu­lier­ba­re Infor­ma­tio­nen belie­bi­ger Art in großem Umfang mitzu­tei­len und außer­halb eines Gehirns zu spei­chern. Der erste Schritt zu einer infla­tio­nä­ren Zunah­me an Infor­ma­ti­on ergab sich durch die Erfin­dung des Buch­drucks. Später kamen dann noch die Möglich­kei­ten hinzu, akus­ti­sche und opti­sche Sach­ver­hal­te mit tech­ni­schen Mitteln zu spei­chern und zu vertei­len. Ein weite­rer Schritt mit infla­tio­nä­rer Wirkung bestand in der Nutzung elek­tro­tech­ni­scher Syste­me zur geziel­ten Weiter­ga­be oder zur offe­nen Verbrei­tung von Infor­ma­tio­nen über Tele­fon­net­ze und Rund­funk­sys­te­me. Der bisher letzte Schritt bestand im Aufbau des welt­wei­ten Inter­nets in Verbin­dung mit soft­ware­ge­füll­ten Computern.

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Dieser letzte Schritt beruht auf der bereits von Gott­fried Wilhelm Leib­niz (1646 – 1716) erkann­ten Tatsa­che, dass nicht nur Zahlen, sondern alle belie­bi­gen Infor­ma­tio­nen durch Folgen von zwei Symbo­len – beispiels­wei­se {0 oder 1}, {falsch oder wahr}, {links oder rechts} oder {Loch oder kein Loch} – codiert werden können. Solche Folgen sind nicht zur Wahr­neh­mung durch mensch­li­che Sinnes­or­ga­ne bestimmt, sondern zur Spei­che­rung, Verar­bei­tung und Weiter­ga­be durch digi­tal­tech­ni­sche Syste­me. Die Binär­fol­gen können aber durch tech­ni­sche Wand­ler aus Infor­ma­tio­nen, die in einer für Menschen geeig­ne­ten opti­schen oder akus­ti­schen Form vorlie­gen, gewon­nen oder in solche Formen gewan­delt werden.
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