Die „Nichtregierung“ – Karl-Martin Hentschel
Gedanken zur Zukunft der Demokratie und der EU Nr. 1 Konkordanzsystem und Direkte Demokratie – ein Modell für die EU?
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Mit dem „stabilsten Land der Welt“, von dem Nassim Taleb spricht, meint er natürlich die Schweiz. Ihre Bilanz lässt sich trotz vieler berechtigter Kritikpunkte sehen: In 170 Jahren ohne Beteiligung an einem Krieg entwickelte sie sich zu einem der reichsten, sozialsten und umweltbewusstesten Staaten. Ein Highlight stellt für mich immer noch das Rentensystem dar, eines der besten der Welt für untere Einkommen – und auch für die 25 Prozent Ausländer! Vor allem aber stehen die Schweizer hinter ihrer Demokratie und sind davon überzeugt, dass sie – das Volk – das Sagen haben. Können wir davon etwas lernen, oder handelt es sich um eine besondere Mentalität eines kleinen Bergvolkes, die nicht auf andere Länder oder gar die EU übertragbar ist?
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Die Nichtregierung
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Es stimmt tatsächlich: Die Schweiz hat wirklich keine Regierung – zumindest nicht das, was man im üblichen Sinne darunter versteht – nämlich ein Gremium, das das Land in die eine oder andere Richtung lenkt. Da fragt man natürlich, wie das funktionieren kann. Die Antwort ist einfach und verblüffend: An der Spitze der Exekutive – also der Ministerien – steht ein siebenköpfiger kollegialer Verwaltungsrat, der Bundesrat. Er entstand in der Tradition des Direktoriums der französischen Revolution – hat sich aber in eine deutlich andere Richtung entwickelt. Denn seit 1943 wird er von allen größeren und mittleren Parteien gemeinsam zusammengesetzt und entscheidet stets im Konsens. Diese Konstruktion nennt man „Konkordanzdemokratie“.
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Der Bundesrat verwaltet also die Schweiz parteipolitisch neutral und konsensual. Die politische Richtung jedoch wird vom Parlament und dem Volk in Volksentscheiden vorgegeben. Erstaunlicherweise geniest diese Nichtregierung ein im internationalen Vergleich einmalig hohes Vertrauen bei den Bürgern. Zugleich entwickeln sich daraus völlig andere Rollen und Verhaltensweisen des Parlamentes, der Fraktionen und der Parteien.
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Ein Modell für Europa
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Wie komme ich darauf, dass dies ein geeignetes Modell für die EU sein könnte? Einige Ähnlichkeiten drängen sich auf: Europa ist ein extrem vielfältiger Erdteil. Tatsächlich haben weder Europa oder die EU noch die Schweiz ein Staatsvolk. Vor ihrer Gründung von 170 Jahren bestand die Schweiz aus drei Monarchien, sechs Landsgemeinden (mit einer direkten Demokratie der Grundbesitzer), sieben Patriziaten (Herrschaft des Stadtadel – also der alten Kaufmannsfamilien), vier Zunftverfassungen (Herrschaft der selbstständigen Handwerker), zwei Föderationen (bestehend aus mehreren autonomen Gemeinden) und einer Reihe von Untertanengebieten (von Städten fremdregiert ohne eigene Rechte). Dazu gab es vier verschiedene Sprachen und zwei Religionen, die sich mehr hassten als heute Juden und Moslems – der letzte Schweizer Religionskrieg von 1847 war noch frisch in Erinnerung. Heute werden in Europa über 250 Muttersprachen gesprochen (davon ein Drittel durch Migranten) und es gibt 24 EU-Amtssprachen, in die alle nach außen wirksamen Dokumente von Parlament und Kommission übersetzt werden müssen.
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Sollte die EU tatsächlich eine gemeinsame demokratische Verfassung bekommen, dann wäre eine Mehrheitsregierung geradezu gefährlich. So wie in der Schweiz die Deutschschweizer niemals akzeptieren würden, dass die romanischen Kantone dominieren, dass die Katholiken die Mehrheit in der Regierung stellten, dass die Städter Vorschriften für die Bauern in den Bergen machten, so würde auch in der EU niemand eine Dominanz der Westeuropäer, der Südeuropäer, der Katholiken und so weiter akzeptieren. Bei einer Mehrheitsregierung könnte Osteuropa in Opposition zu einer westlich geprägten Regierung treten, Südeuropa könnte in Opposition zu einer nördlich geprägten Regierung geraten. Und eine gemeinsame Mehrheitsbildung des Südens und Ostens gegen Deutschland würde erst recht massive Verwerfungen hervorrufen.
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Die neue Rolle des Parlaments und der Parteien
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Dieses Problem kann auch nicht durch eine Direktwahl des Präsidenten gelöst werden, wie Ulrike Guérot, eine bekannte Vorkämpferin für eine europäische Verfassung, es vorschlägt. Es ist interessant, dass ausgerechnet Parag Khanna, ehemals enger Vertrauter und außenpolitischer Berater von Präsident Obama, die Direktwahl des Präsidenten für den größten Fehler der US-Verfassung hält, da sie das Land spaltet und die politische Debatte personalisiert. Schon Rousseau lehnte sie ab als „Wahlkönigtum“.
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Das Konkordanzsystem führt auch zurück zu einer echten Gewaltenteilung. Heute werden im Bundestag mehr Gesetze von der Regierung als von den Abgeordneten vorgelegt. Und die Mehrheit der Abgeordneten, die „Regierungskoalition“, ist auf Gedeih und Verderben verpflichtet, immer für die Regierung zu stimmen. Umgekehrt stimmt die Opposition oft aus Prinzip dagegen. Diese „Verschränkung“ von Legislative und Exekutive und der sich daraus ergebende Fraktionszwang tun dem Parlament nicht gut und beschädigen auch das Ansehen der Abgeordneten
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Eine Konsensdemokratie mit einem Kollegialrat als Leitung der Exekutive würde dagegen die offene Atmosphäre im EU-Parlament erhalten, die von Beobachtern oft gelobt wird und die keinen Fraktionszwang kennt. Hätte ein solcher Kollegialrat der EU 15 Mitglieder, dann säßen nach der heutigen Zusammensetzung des Europaparlaments im Kollegialrat vier Vertreter*innen der Europäischen Volkspartei (mit CDU/CSU), drei der Sozialdemokraten, zwei der Liberalen, zwei der Konservativen (darunter ein englischer Tory), eine der Linken, eine der Grünen, eine der Populisten und eine der Nationalisten. Diese fünfzehn Kollegialräte müssten sich auf eine gemeinsame Staatsverwaltung verständigen und vor allem die Gesetze des Parlamentes umsetzen. Unvorstellbar? Ich denke nein: Es wäre vielleicht sogar eine große Chance, Vertrauen in die Politik aufzubauen anstatt die Völker Europas zu spalten. Die politischen Debatten würden dann zu Sachdebatten im Parlament werden.
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Parteien sind im Konkordanzsystem auch keine Machtapparate mehr wie in Deutschland. Es gibt ja keine Koalitionen. Die lautstarken Politiker würden eher nicht mehr in die Regierung gehen – weil sie sich dort gar nicht profilieren könnten. Sie säßen im Parlament – also da, wo die politischen Debatten auch hingehören. Und dort gäbe es keine Koalitionszwänge und auch keinen Fraktionszwang, sondern nur noch Abgeordnete und Parteien, die für ihre politischen Ziel werben.
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Dieser Effekt könnte natürlich noch verstärkt werden, wenn auch in der EU Volksentscheide möglich werden und so politische Debatten quer durch ganz Europa über die Zukunft des Kontinents angestoßen werden können. Dann fokussieren sich die öffentlichen Debatten und die Berichterstattung in den Medien zum einen auf das Parlament (die Legislative) und zum zweiten auf die Volksinitiativen und Referenden – also die Direkte Demokratie. Dadurch bekommen die Debatten in der Zivilgesellschaft und den Nichtregierungsorganisationen viel mehr Gewicht. Denn diese sind nicht nur unwichtige Zuschauer und kommentierende Beobachter und Kritiker, sondern sie sind direkt handelnde Subjekte in der Demokratie
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mehr dazu online
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Mit dem „stabilsten Land der Welt“, von dem Nassim Taleb spricht, meint er natürlich die Schweiz. Ihre Bilanz lässt sich trotz vieler berechtigter Kritikpunkte sehen: In 170 Jahren ohne Beteiligung an einem Krieg entwickelte sie sich zu einem der reichsten, sozialsten und umweltbewusstesten Staaten. Ein Highlight stellt für mich immer noch das Rentensystem dar, eines der besten der Welt für untere Einkommen – und auch für die 25 Prozent Ausländer! Vor allem aber stehen die Schweizer hinter ihrer Demokratie und sind davon überzeugt, dass sie – das Volk – das Sagen haben. Können wir davon etwas lernen, oder handelt es sich um eine besondere Mentalität eines kleinen Bergvolkes, die nicht auf andere Länder oder gar die EU übertragbar ist?
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Die Nichtregierung
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Es stimmt tatsächlich: Die Schweiz hat wirklich keine Regierung – zumindest nicht das, was man im üblichen Sinne darunter versteht – nämlich ein Gremium, das das Land in die eine oder andere Richtung lenkt. Da fragt man natürlich, wie das funktionieren kann. Die Antwort ist einfach und verblüffend: An der Spitze der Exekutive – also der Ministerien – steht ein siebenköpfiger kollegialer Verwaltungsrat, der Bundesrat. Er entstand in der Tradition des Direktoriums der französischen Revolution – hat sich aber in eine deutlich andere Richtung entwickelt. Denn seit 1943 wird er von allen größeren und mittleren Parteien gemeinsam zusammengesetzt und entscheidet stets im Konsens. Diese Konstruktion nennt man „Konkordanzdemokratie“.
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Der Bundesrat verwaltet also die Schweiz parteipolitisch neutral und konsensual. Die politische Richtung jedoch wird vom Parlament und dem Volk in Volksentscheiden vorgegeben. Erstaunlicherweise geniest diese Nichtregierung ein im internationalen Vergleich einmalig hohes Vertrauen bei den Bürgern. Zugleich entwickeln sich daraus völlig andere Rollen und Verhaltensweisen des Parlamentes, der Fraktionen und der Parteien.
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Ein Modell für Europa
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Wie komme ich darauf, dass dies ein geeignetes Modell für die EU sein könnte? Einige Ähnlichkeiten drängen sich auf: Europa ist ein extrem vielfältiger Erdteil. Tatsächlich haben weder Europa oder die EU noch die Schweiz ein Staatsvolk. Vor ihrer Gründung von 170 Jahren bestand die Schweiz aus drei Monarchien, sechs Landsgemeinden (mit einer direkten Demokratie der Grundbesitzer), sieben Patriziaten (Herrschaft des Stadtadel – also der alten Kaufmannsfamilien), vier Zunftverfassungen (Herrschaft der selbstständigen Handwerker), zwei Föderationen (bestehend aus mehreren autonomen Gemeinden) und einer Reihe von Untertanengebieten (von Städten fremdregiert ohne eigene Rechte). Dazu gab es vier verschiedene Sprachen und zwei Religionen, die sich mehr hassten als heute Juden und Moslems – der letzte Schweizer Religionskrieg von 1847 war noch frisch in Erinnerung. Heute werden in Europa über 250 Muttersprachen gesprochen (davon ein Drittel durch Migranten) und es gibt 24 EU-Amtssprachen, in die alle nach außen wirksamen Dokumente von Parlament und Kommission übersetzt werden müssen.
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Sollte die EU tatsächlich eine gemeinsame demokratische Verfassung bekommen, dann wäre eine Mehrheitsregierung geradezu gefährlich. So wie in der Schweiz die Deutschschweizer niemals akzeptieren würden, dass die romanischen Kantone dominieren, dass die Katholiken die Mehrheit in der Regierung stellten, dass die Städter Vorschriften für die Bauern in den Bergen machten, so würde auch in der EU niemand eine Dominanz der Westeuropäer, der Südeuropäer, der Katholiken und so weiter akzeptieren. Bei einer Mehrheitsregierung könnte Osteuropa in Opposition zu einer westlich geprägten Regierung treten, Südeuropa könnte in Opposition zu einer nördlich geprägten Regierung geraten. Und eine gemeinsame Mehrheitsbildung des Südens und Ostens gegen Deutschland würde erst recht massive Verwerfungen hervorrufen.
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Die neue Rolle des Parlaments und der Parteien
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Dieses Problem kann auch nicht durch eine Direktwahl des Präsidenten gelöst werden, wie Ulrike Guérot, eine bekannte Vorkämpferin für eine europäische Verfassung, es vorschlägt. Es ist interessant, dass ausgerechnet Parag Khanna, ehemals enger Vertrauter und außenpolitischer Berater von Präsident Obama, die Direktwahl des Präsidenten für den größten Fehler der US-Verfassung hält, da sie das Land spaltet und die politische Debatte personalisiert. Schon Rousseau lehnte sie ab als „Wahlkönigtum“.
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Das Konkordanzsystem führt auch zurück zu einer echten Gewaltenteilung. Heute werden im Bundestag mehr Gesetze von der Regierung als von den Abgeordneten vorgelegt. Und die Mehrheit der Abgeordneten, die „Regierungskoalition“, ist auf Gedeih und Verderben verpflichtet, immer für die Regierung zu stimmen. Umgekehrt stimmt die Opposition oft aus Prinzip dagegen. Diese „Verschränkung“ von Legislative und Exekutive und der sich daraus ergebende Fraktionszwang tun dem Parlament nicht gut und beschädigen auch das Ansehen der Abgeordneten
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Eine Konsensdemokratie mit einem Kollegialrat als Leitung der Exekutive würde dagegen die offene Atmosphäre im EU-Parlament erhalten, die von Beobachtern oft gelobt wird und die keinen Fraktionszwang kennt. Hätte ein solcher Kollegialrat der EU 15 Mitglieder, dann säßen nach der heutigen Zusammensetzung des Europaparlaments im Kollegialrat vier Vertreter*innen der Europäischen Volkspartei (mit CDU/CSU), drei der Sozialdemokraten, zwei der Liberalen, zwei der Konservativen (darunter ein englischer Tory), eine der Linken, eine der Grünen, eine der Populisten und eine der Nationalisten. Diese fünfzehn Kollegialräte müssten sich auf eine gemeinsame Staatsverwaltung verständigen und vor allem die Gesetze des Parlamentes umsetzen. Unvorstellbar? Ich denke nein: Es wäre vielleicht sogar eine große Chance, Vertrauen in die Politik aufzubauen anstatt die Völker Europas zu spalten. Die politischen Debatten würden dann zu Sachdebatten im Parlament werden.
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Parteien sind im Konkordanzsystem auch keine Machtapparate mehr wie in Deutschland. Es gibt ja keine Koalitionen. Die lautstarken Politiker würden eher nicht mehr in die Regierung gehen – weil sie sich dort gar nicht profilieren könnten. Sie säßen im Parlament – also da, wo die politischen Debatten auch hingehören. Und dort gäbe es keine Koalitionszwänge und auch keinen Fraktionszwang, sondern nur noch Abgeordnete und Parteien, die für ihre politischen Ziel werben.
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Dieser Effekt könnte natürlich noch verstärkt werden, wenn auch in der EU Volksentscheide möglich werden und so politische Debatten quer durch ganz Europa über die Zukunft des Kontinents angestoßen werden können. Dann fokussieren sich die öffentlichen Debatten und die Berichterstattung in den Medien zum einen auf das Parlament (die Legislative) und zum zweiten auf die Volksinitiativen und Referenden – also die Direkte Demokratie. Dadurch bekommen die Debatten in der Zivilgesellschaft und den Nichtregierungsorganisationen viel mehr Gewicht. Denn diese sind nicht nur unwichtige Zuschauer und kommentierende Beobachter und Kritiker, sondern sie sind direkt handelnde Subjekte in der Demokratie
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