Die Geheimtür zur Verteilungsgerechtigkeit – Editorial
Über viele Jahre hat Helmut Creutz meine Arbeit für die HUMANE WIRTSCHAFT begleitet. Der 2017 verstorbene Wirtschaftsanalytiker war ein unermüdlicher Forscher und Autor unzähliger Beiträge für diese Zeitschrift. Das Archiv auf unserer Website legt davon Zeugnis ab. Bei der Zusammenstellung der Texte für diese Ausgabe ist mir Helmut auf besondere Weise wieder begegnet, als ich auf die Arbeiten des kanadischen Ökonomen Blair Fix aufmerksam wurde. Die beiden können nie etwas voneinander gehört oder gelesen haben. Sie haben sich auf verschiedenen Kontinenten und zu unterschiedlichen Zeiten mit der Umverteilungswirkung von Zinsen beschäftigt und sind zum gleichen Ergebnis gekommen: Zinsen haben einen enormen Einfluss auf die Einkommensverteilung und die Vermögensbildung. Blair Fix sieht in ihnen geradezu eine Waffe im Klassenkampf der Reichen gegen die Armen.
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Zu allen Zeiten, beginnend in der Bibel, haben Gelehrte die Umverteilungskraft des Zinses erkannt. Georg Blumenthal, ein enger Mitarbeiter Silvio Gesells, fasste es 1916 so zusammen: „Die Übermacht des Geldes, die sich im ‚Zins‘ ausdrückt, ist die Ursache dafür, dass die Reichen ohne eigenes Verdienst immer reicher werden — und die Armen ohne Schuld immer arm bleiben, dass die Arbeiter dazu verurteilt sind, ewig armselige Proletarier zu sein.“ Silvio Gesell selbst legte in seinem Hauptwerk vor über 100 Jahren dar, wie der Zins die Gesellschaft in wenige Rentiers und viele „Lasttiere“ spaltet, und John Maynard Keynes betonte 1936 in seiner „Allgemeinen Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“ die „wachsende Unterdrückungsmacht der Kapitalisten“. Diese in klaren Worten auf Personen reduzierten Auswüchse beruhen jedoch auf einem systematischen Prozess, der verändert werden kann. Im Zeitalter der digitalen Vernetzung stehen dem Forscherdrang von Blair Fix 2024 im Vergleich zu den Möglichkeiten von Helmut Creutz 30 Jahre zuvor wesentlich leichter zugängliche Daten und Methoden zur Verfügung. Dieser bequeme Zugang zu Messwerten erleichtert die Beweisführung, verleiht Argumenten mehr Gewicht und ebnet damit grundsätzlich den Weg für Veränderungen. Das nährt die Hoffnung, dass sich mehr Forscherinnen und Forscher mit dem Thema beschäftigen. Es ist höchste Zeit dafür, denn in den letzten drei Jahrzehnten haben das von den beiden Analytikern festgestellte Phänomen und seine Auswirkungen die Gesamtsituation verschärft. Vor allem zeigt die Evidenz, dass es global in die gleiche Richtung geht. Überall auf der Welt verstärken die Zinsen die Ungleichheit und stürzen ganze Staaten in soziale Krisen. Je höher die Zinsen, desto gravierender die Folgen. Dennoch werden Studierende und damit die Wirtschaftselite von morgen immer noch mit Theorien über die Neutralität von Geld und Kapital in wirtschaftlichen Prozessen ausgebildet. Die Konsequenzen dieser Verleugnung zeigen sich im Sozialen und inzwischen auch in der existenziellen Bedrohung durch den Klimawandel. Der Ressourcenverbrauch mit seinen verheerenden Auswirkungen für den Lebensraum Erde ist eine Folge des Wachstumszwangs, den das Geldsystem ebenso hervorbringt wie die in diesem Heft untersuchte Ungleichverteilung. Auch die Machtkonzentration und die Verflechtung von Konzernen, Superreichen und Politik tragen zur Zersetzung sozialen Zusammenhalts bei. Oligopole und Monopole haben sich in lebenswichtigen Bereichen der Daseinsvorsorge gebildet. Pat Christ beleuchtet dies in dieser Ausgabe.
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Zuverlässig wie ein Uhrwerk werden die Leistungen der Wertschöpfenden über das Vehikel Zins in die Kassen der Kapitalbesitzer umverteilt und verschärfen die Probleme. Mit ständigem Wirtschaftswachstum wird versucht, dem drohenden Szenario des sozialen Zusammenbruchs entgegenzuwirken. Doch menschliche Leistungsfähigkeit stößt an seine Grenzen und obendrein führt unaufhörliches Wachstum zu existenzbedrohenden ökologischen Katastrophen. Der Kapitalismus nähert sich seinem Ende, doch der sich bietende Ausweg, ein Geldsystem, das dem Zins sein Umverteilungspotential nimmt, scheint unter der ökonomischen Élite noch immer eine Art unentdeckte Geheimtür zu sein. Die Tür zum nachweislich in der Praxis gescheiterten Sozialismus marxistischer Prägung ist in Politik und Wissenschaft als in die Hölle führend verbarrikadiert worden. Um die rettende Geheimtür zu finden, muss man aus dem Bücherregal der Wirtschaftswissenschaften die passenden Werke heraussuchen, damit sich eine neue Welt des ökonomischen Denkens öffnet. Doch das gleicht der berühmten Suche nach der Nadel im Heuhaufen, denn in fast allen Lehrbüchern, die dort zu finden sind und in den neu hinzukommenden, wird nach wie vor das Mantra von der Neutralität des Geldes heruntergebetet. Auf den Helden, wie er in Spielfilmen auftritt, warten wir vergebens. Helmut Creutz war von seinen Forschungsergebnissen so verblüfft und bewegt, dass sein Resümee lautete:
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„Wann endlich begreift die Politik, dass wir mit diesen Umverteilungen auf einem Pulverfass sitzen, dessen Zündschnur – der Zinseszins – ständig schneller abbrennt? Und wann endlich begreifen vor allem auch die für diese Fragen zuständigen Ökonomen und Regierungsberater, dass man sie eines Tages für das daraus resultierende Desaster verantwortlich machen könnte? – Was ist das überhaupt für eine Wissenschaft, in der man – abgesehen von wenigen Ausnahmen – die entscheidenden Ursachen unserer existenziellen Miseren und Zwänge nicht wahrnimmt und uns damit ohne gangbare Auswege in die Zukunft entlässt?“
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