Deutsche Bahn AG: Unternehmen Zukunft oder Auslaufmodell auf dem Abstellgleis? – Dirk Löhr

Ist die – 1994 vom dama­li­gen Kanz­ler Kohl initi­ier­te Bahn­re­form ein nach­hal­ti­ges und zukunfts­fä­hi­ges Modell? Kann die notwen­di­ge Verkehrs­wen­de weg vom moto­ri­sier­ten Indi­vi­du­al­ver­kehr hier­mit bewäl­tigt werden? 20 Jahre Bahn­re­form geben Anlass zu einer Bestandsaufnahme.

Fehl­ge­lei­te­te Unter­neh­mens­po­li­tik: Der Tanz um das golde­ne Kalb der betriebs­wirt­schaft­li­chen Effizienz 

20 Jahre Bahn­re­form – und noch sind die Priva­ti­sie­rungs­an­stren­gun­gen nicht am Ziel. Noch ist die Deut­sche Bahn AG (DB AG) zu 100 % in der Hand des Bundes. Aller­dings hätte sie nie und nimmer eine Chance, den „Duck-Test“ zu bestehen: „If it looks like a duck, swims like a duck, and quacks like a duck, then it proba­b­ly is a duck.“ Auch, wenn nach wie vor die Antei­le an der DB AG in der Hand des Bundes sind, und obwohl mehre­re Priva­ti­sie­rungs­an­läu­fe bislang schei­ter­ten (zuletzt wegen der Finanz­kri­se 2008), agiert die Gesell­schaft de facto wie ein priva­tes erwerbs­wirt­schaft­li­ches Unter­neh­men. Von Poli­tik und Verwal­tung wird dies gedul­det, erhofft man sich doch, dass Unter­neh­mens­ge­win­ne die chro­nisch klam­men öffent­li­chen Kassen aufbessern.

Die Analy­se der deut­schen Bahn­pri­va­ti­sie­rung ist v. a. durch die Brille der System­theo­rie erhel­lend. Gemäß der Leit­wert­theo­rie von Bossel (1998) hat jedes leben­di­ge System gleich­zei­tig eine Reihe von „Leit­wer­ten“ zu erfül­len (Effi­zi­enz, Versor­gung, Wand­lungs­fä­hig­keit etc.). Werden bestimm­te Werte über­trie­ben oder vernach­läs­sigt, kann das System dege­ne­rie­ren oder im schlimms­ten Falle zugrun­de gehen.

In der alten „Behör­den­bahn“ hatte der Leit­wert der Versor­gung (mit Mobi­li­tät) eine hervor­ge­ho­be­ne Bedeu­tung. Ein gut ausge­bau­tes Schie­nen­netz sorgte für die Anbin­dung selbst der entle­ge­ne­ren länd­li­chen Gegen­den. Ange­sichts der ange­streb­ten Ände­run­gen der Mobi­li­täts­mus­ter (nämlich weg vom Indi­vi­du­al­ver­kehr, hin zum öffent­li­chen Nahver­kehr) sollte man eigent­lich anneh­men, dass der Ausbau des Netzes auch im Rahmen der Bahn­re­form als vordring­li­che Aufga­be einge­stuft worden wäre. Das Gegen­teil ist jedoch der Fall. Auf Gewinn getrimmt, wurde der Leit­wert „Effi­zi­enz“ immer mehr in den Vorder­grund gescho­ben und gleich­zei­tig der Leit­wert „Versor­gung“ vernach­läs­sigt. So wurde im Rahmen des Priva­ti­sie­rungs­pro­zes­ses seit 1990 das Schie­nen­netz um ca. 8.000 km auf nunmehr 33.400 km (2013) redu­ziert . Während die Schweiz eine Bahn­hofs­dich­te von 50 Statio­nen pro 1.000 km² aufweist, sind es in Deutsch­land nur noch ca. 16 Statio­nen pro 1.000 km². Man igno­rier­te die „Golde­ne Regel“ des öffent­li­chen Nahver­kehrs, wonach das Ange­bot seine eigene Nach­fra­ge schafft.

Statt­des­sen wollte die DB AG zum welt­weit führen­den Mobi­li­täts- und Logis­tik­un­ter­neh­men werden. Betei­li­gungs­käu­fe an Unter­neh­men wie Schen­ker, Hang­art­ner und Joyau, der briti­schen Eisen­bahn­fracht­ge­sell­schaft EWS, des US Luft- und Seefracht­spe­zia­lis­ten Bax Global, der däni­schen Busge­sell­schaft Pan Bus und der briti­schen Verkehrs­ge­sell­schaft Arriva koste­ten viele Milli­ar­den Euro. Mitt­ler­wei­le ist die DB AG in mehr als 150 Ländern als Anbie­ter von Trans­port- und Logis­tik­dienst­leis­tun­gen präsent. 105.000 der insge­samt rund 300.000 Konzern­mit­ar­bei­ter arbei­ten im Ausland (DB Mobi­li­ty Networks Logi­stics 2013).

Gleich­zei­tig konzen­trier­te man sich bei der infra­struk­tur­mä­ßig ausge­dünn­ten DB AG auf den Fern­ver­kehr und Hoch­ge­schwin­dig­keits­zü­ge – hier hat die DB AG faktisch immer noch ein Mono­pol im Betrieb. Dies ging auf Kosten der Wartung und Verbes­se­rung des verblie­be­nen Netzes sowie des Nahver­kehrs – obwohl die DB AG hier gute Gewin­ne erzielt (s. unten mehr). 90 % aller Bahn­fahr­ten finden im Nahver­kehr statt; dennoch wurden nur 10 % aller Mittel in den Nahver­kehr gelenkt. Die Unter­neh­mens­po­li­tik zielte auch auf die Pflege eines spezi­el­len Kunden­krei­ses ab: Geschäfts­rei­sen­de und Erste-Klasse-Kunden mit hoher Zahlungs­be­reit­schaft. Die Mobi­li­täts­be­dürf­nis­se der Bevöl­ke­rungs­mehr­heit wurden darüber vernach­läs­sigt. Auch diese bahn­in­ter­ne Orien­tie­rung steht dem Ziel im Wege, mehr Verkehr auf die Schie­ne zu lenken. So weckt denn die Analy­se der Reisen­den-Statis­tik Zwei­fel an der einge­schla­ge­nen Stra­te­gie. Zwar verweist die DB AG auf einen Anstieg der Reisen­den für 2012 (insge­samt über 2,2 Milli­ar­den; Statis­ta 2014b), doch entfällt – mit abneh­men­der Tendenz der aller­größ­te Teil hier­von auf den subven­tio­nier­ten Nahverkehr. 

„Inte­grier­ter Schienenkonzern“ 

Ein weite­rer Komplex von Fehl­ent­wick­lun­gen hängt mit der fehlen­den Tren­nung von Netz und Betrieb zusam­men. Bei der DB AG handelt es sich nämlich um einen “inte­grier­ten Schie­nen­kon­zern”, also einen Konzern, bei dem sich Netz und Betrieb unter dem Dach dersel­ben Gesell­schaft befin­den. Dies kommt zwar der betriebs­wirt­schaft­li­chen Logik und den Wünschen des Manage­ments entge­gen, nicht aber den Bedürf­nis­sen der Allge­mein­heit. Folgen­de Proble­me sind augenscheinlich: 

Die Blocka­de von Konkur­ren­ten. Unter den Argus­au­gen der Wett­be­werbs­hü­ter hat sich hier zwar Vieles verbes­sert. Aller­dings gescha­hen in der Vergan­gen­heit immer wieder versteck­te Blocka­den (in frühe­ren Zeiten beispiels­wei­se über intrans­pa­ren­te Preis­ge­stal­tung), obwohl das Recht insbe­son­de­re die Diskri­mi­nie­rung von Konkur­ren­ten der DB AG beim Netz­zu­gang verbietet.
Gren­zen der Regu­lier­bar­keit, zumal es sich beim Schie­nen­netz um ein sog. „natür­li­ches Mono­pol” handelt. Die DB AG ist sich über die stra­te­gi­sche Bedeu­tung dieses Mono­pols durch­aus im Klaren. Die Tras­sen­prei­se sollen in Zukunft weiter stei­gen. Dies scha­det den Wett­be­wer­bern, nicht aber dem Netz­mo­no­po­lis­ten DB AG: So lange sie Netz wie Betrieb unter einem Dach vereint, wandert das Geld infol­ge solcher Preis­er­hö­hun­gen nur von der linken in die rechte Tasche. Anders als ihre Konkur­ren­ten verliert die DB AG also nichts. Die Möglich­kei­ten der Regu­lie­rungs­be­hör­den, den Miss­brauch des natür­li­chen Mono­pols Netz zu verhin­dern, sind de facto beschränkt.
Unzu­läs­si­ge Quer­sub­ven­tio­nie­run­gen. Die wich­tigs­ten Gewinn­quel­len der DB AG stel­len das Netz, die Perso­nen­bahn­hö­fe und der Regio­nal­ver­kehr dar. Allein Netz und Regio­nal­ver­kehr tragen 23 zum Unter­neh­mens­ge­winn bei, obwohl sie nur ¼ der Einnah­men gene­rie­ren. Aller­dings erhal­ten beide Sekto­ren auch hohe Subven­tio­nen (ca. 7 Mrd. Euro für den Nahver­kehr und um die 4 Mrd. Euro für das Netz) auf Kosten des Steu­er­zah­lers. Die Inves­ti­ti­on dieser Gelder in globa­le Unter­neh­mens­ak­ti­vi­tä­ten sowie in den Fern­ver­kehr und in Hoch­ge­schwin­dig­keits­zü­ge wird als sehr proble­ma­tisch angesehen.

Obwohl viele Verkehrs­exper­ten seit langer Zeit eine unab­hän­gi­ge Netz­ge­sell­schaft in öffent­li­cher Hand einfor­dern, wird der „inte­grier­te Schie­nen­kon­zern“ von einer unhei­li­gen Alli­anz aus DB AG-Mana­gern, den großen poli­ti­schen Partei­en und Gewerk­schaf­ten vertei­digt. Aller­dings handelt es sich beim staat­li­chen Eigen­tum an einem natür­li­chen Mono­pol – wie es das Schie­nen­netz darstellt – keines­wegs um eine bolsche­wis­ti­sche, sondern um eine klas­sisch-libe­ra­le Idee.

Die Unter­fi­nan­zie­rung der Netzinfrastruktur 

Eines der größ­ten Proble­me ist jedoch das der mangel­haf­ten Wartun­gen und Reinves­ti­tio­nen in das Netz. Reibungs­lo­se Betriebs­ab­läu­fe sind nicht mehr gewähr­leis­tet, das Schie­nen­netz verkommt lang­sam, aber sicher. In Deutsch­land wird die Wartung des Netzes durch die DB AG (2/3 der netz­be­zo­ge­nen Ausga­ben) finan­ziert, (Re-) Inves­ti­tio­nen (Ersatz­be­schaf­fun­gen und Netz­er­wei­te­run­gen) durch den Staat (1/3 der netz­be­zo­ge­nen Ausga­ben; vgl. DB Mobi­li­ty Networks Logi­stics 2014, S. 5). Dies gibt der DB AG einen Anreiz, die Instand­set­zung und Wartung zu mini­mie­ren und auf Verschleiß zu fahren – für den Ersatz des verschlis­se­nen Netzes kommt ja der Steu­er­zah­ler auf.

Die Unter­fi­nan­zie­rung des Netzes kann jedoch ernst­haf­te Konse­quen­zen haben: Man denke an den Unfall von Hordorf im Januar 2011 (10 Tote, 23 teils schwer Verletz­te, N. N. 2011). Der Unfall hätte leicht durch die Instal­la­ti­on eines auto­ma­ti­schen Brems­sys­tems auf der Stre­cke vermie­den werden können („punkt­för­mi­ge Zugbe­ein­flus­sung“, kurz PZB). Man denke auch an die laufen­den Verspä­tun­gen. Heut­zu­ta­ge ist es siche­rer, auf ein Pferd zu wetten, als auf einen pünkt­li­chen Zug. Ein großer Teil der Verspä­tun­gen wird durch Lang­sam-Fahr­stre­cken verur­sacht, die wieder­um ihre Ursa­che in dem herun­ter­ge­kom­me­nen Schie­nen­netz haben. Die Misere mani­fes­tier­te sich insbe­son­de­re an den Stell­wer­ken. Zwischen 2002 und 2012 redu­zier­te die DB Netz AG ihre Mitar­bei­ter von 51.918 auf 35.249. Paral­lel hierzu kam aller­dings die Digi­ta­li­sie­rung der Stell­wer­ke nicht rich­tig voran – auch wegen der damit einher­ge­hen­den hohen Kosten. Die unver­meid­li­che Konse­quenz sind Engpäs­se. Der Netz­zu­stands­be­richt 2012 stell­te eine Zunah­me an Verspä­tun­gen und Zugaus­fäl­len von 4,5 % fest, die durch Stell­werks­pro­ble­me verur­sacht wurden. Aller­dings dürfte es sich hier­bei um eine Unter­trei­bung handeln, zumal die DB AG ihre eigene Defi­ni­ti­on von Pünkt­lich­keit entwi­ckelt hat (Tagesschau.de 2011). Der vorläu­fi­ge Höhe­punkt ereig­ne­te sich im Septem­ber 2013, als Mainz mehre­re Wochen weit­ge­hend vom Netz abge­kop­pelt wurde – aufgrund akuter Perso­nal­eng­päs­se. Ein Vorstands­mit­glied der DB Netz AG musste seinen Hut nehmen. Das eigent­li­che Problem war frei­lich weni­ger die schlech­te Quali­tät des Manage­ments an sich, als viel­mehr die schlech­te Quali­tät der poli­ti­schen Vorga­ben – die durch das Manage­ment in skla­vi­schem Gehor­sam umge­setzt wurden. 

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