De gustibus EST disputandum – Gero Jenner
„Über Geschmäcke KANN man streiten“ – als Gegensatz zum Original „De gustibus NON EST disputandum“
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Eine wichtige, vielleicht die wichtigste Aufgabe eines guten Lehrers hat darin zu bestehen, den Schülern voreiliges Urteilen abzugewöhnen, denn mit diesem Bedürfnis kommen wir auf die Welt, während der Verstand sich nur sehr langsam entfaltet. Der Säugling schreit sofort, wenn ihm unwohl ist, und er lächelt, wenn man ihn freundlich behandelt. Aber auch das Vokabular von Pubertierenden enthält vor allem Ausdrücke wie super, geil, toll und anderseits ablehnendes Werten wie pfui, widerlich, böse etc. Die Abneigung gegen eigenständiges Denken und die Neigung, Argumente durch vorschnelles Werten und Urteilen zu ersetzen, bleibt darüber hinaus bei vielen Menschen erhalten – bei nicht wenigen ein Leben lang.
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Wie man weiß, wissen sich Demagogen und Populisten dieser angeborenen Neigung virtuos zu bedienen, wenn sie ihre Klientel mit emotional gesättigten Versprechungen oder umgekehrt mit Hassparolen verführen. Gemeinsam für eine Sache die Emotionen zu schüren, kommt dem menschlichen Herdentrieb entgegen – sich gemeinsam gegen sie zu empören aber schweißt sogar noch enger zusammen. Zu Mündigkeit und Vernunft wird der Mensch erst dadurch langsam und oft sehr mühsam herangezogen, dass er vor dem Urteilen die Fakten nicht nur erkennt, sondern sie selbst dann noch anerkennt, wenn sie ihm missfallen.
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Soweit sollte man den Lehrern also Beifall zollen, wenn sie ihren Schülern die wichtige Lektion erteilen: „Eignet euch erst einmal gründliche Kenntnisse an, bevor ihr euch anmaßt, ein eigenes Urteil zu fällen.“
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Andererseits sollte uns aber die Frage erlaubt sein,
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wie denn ein Mensch aussehen würde, der sich diese scheinbar goldene Regel derart zu Herzen nähme, dass er sich nur noch um das Faktenwissen bemüht? Die Antwort liegt auf der Hand, ist aber reichlich ernüchternd. Wir hätten es mit einer wandelnden Enzyklopädie zu tun. Bekanntlich können sich diese Werke des gesammelten Faktenwissens weder für etwas begeistern, noch sind sie fähig, sich zu empören. Sie sind emotional aseptische Container von reinem Wissen. Macht sie diese Freiheit von Gefühlen zu Trägern der Vernunft? Ich denke, dass niemand diese Frage bejahen wird. Denn die reinen Fakten über Welt und Mensch sagen überhaupt nichts darüber aus, wie wir uns zu ihnen verhalten sollen. Wir können nur hoffen, dass die Lehrer dies sehr wohl wissen und daher nicht etwa den Ehrgeiz haben, ihre Schüler in wandelnde Enzyklopädien zu transformieren!
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Aber existieren nicht auch Menschen aus Fleisch und Blut,
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die jenem Ideal am nächsten kommen, welches den Lehrern so sehr am Herzen liegt? Menschen, die sich des Urteilens und Bewertens ganz enthalten oder zumindest enthalten wollen, weil es ihnen allein um die Fakten geht? Allerdings! Diesen Menschentypus gibt es spätestens seit dem 17ten Jahrhundert, und er hat sich seitdem geradezu exponentiell über den Globus verbreitet, sodass er eines Tages überhaupt die Mehrheit bilden könnte. Jeder weiß natürlich, von wem hier die Rede ist, von den Wissenschaftlern – vor allem von jenen, die sich mit den Fakten der Natur befassen.
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In den Lehrbüchern von Physik, Chemie, Ingenieurswissenschaften usw. ist von gut und böse, schön oder hässlich keine Rede. Der eigentliche Durchbruch der Wissenschaften bestand gerade darin, dass der Mensch ausschließlich nach den objektiven Gesetzen fragte, welche dem Sein der Dinge zugrunde liegen, also nach den „Naturgesetzen“, ohne sein eigenes subjektives Wünschen und Wollen in diese ihm gegenüberstehende Wirklichkeit hineinzutragen.
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Das war die große Leistung, die erst im Europa des 17ten Jahrhunderts gelang, denn bis dahin hatte der Mensch genau das Gegenteil getan. Er hatte sein eigenes Wollen, Wünschen, Hassen und Hoffen in die Natur hineingetragen, indem er sie sich nach seinem eigenen Bild vorstellte, nämlich so, als wäre sie wie er selbst von diesen Kräften gesteuert. Die Wissenschaft hat gut und böse, schön und hässlich, diese elementaren Kategorien menschlichen Wertens, ganz aus der Natur hinausgedrängt und diese selbst zu einem Apparat transformiert, den sie in die Schraubzwinge ihres expandierenden Faktenwissens spannte. Erst nach diesem revolutionären Schritt gelang es dem Menschen, die Herrschaft über die Natur an sich zu reißen.
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Das theoretische Fundament für diese Revolution unserer Weltsicht
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hatte Galileo Galilei gegen Ende des 16ten Jahrhunderts geschaffen, als er zwischen „primären“ und „sekundären“ Eigenschaften der Dinge einen prinzipiellen Unterschied postulierte. Form, Größe, Zahl sowie Ruhe oder Bewegung gehören, so Galilei, zu den innewohnenden Eigenschaften der Dinge, während Geschmack, Geruch oder Töne Empfindungen seien, die in uns selbst entstehen, wenn wir mit den Dingen umgehen.
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Diese Zweiteilung der Erkenntnis in objektiv – in der Sache – und subjektiv – im Menschen liegend – wurde nach Galilei noch vertieft, denn der Gedanke, dass ästhetische und ethische Maßstäbe wie schön und hässlich, gut und böse ebenfalls ihren Ursprung im Menschen aber nicht in den Dingen haben, musste sich ja als evident aufdrängen. Eben deshalb fällt es keinem Wissenschaftler ein, ein Wasserstoffatom als moralisch gut zu qualifizieren oder den Quantensprung eher als hässlich. Die Wissenschaft hat alles subjektive Urteilen und Werten prinzipiell aus der eigenen Sphäre verbannt. Sie hat den lateinischen Wahlspruch „de gustibus non est disputandum“ weit über den harmlosen Alltagsgebrauch hinaus ausgedehnt. Den Lateinern ging es nur darum, dass wir uns nicht über Geschmacksfragen streiten, weil jeder von uns dabei gern seine eigenen Präferenzen verteidigt. Die Wissenschaft ging seit Galilei einen entscheidenden Schritt über diese harmlose Mahnung hinaus, indem sie alles menschliche Werten und Urteilen als subjektiv und damit letztlich beliebig verwarf.
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