Charis and Radiance – Lars Spuybroek – Aus dem Engl. übersetzt v. A. Bangemann
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Glanz und Existenz
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Was in diesem Aufsatz zunächst wie die Entwicklung einer ästhetischen Theorie aussah, die die x‑te Sichtweise auf das Schöne darstellte, hat sich nun langsam zu einem Existenzkonzept entwickelt – Existenz im weitesten Sinne, nämlich die Existenz aller Dinge, sowohl von Gegenständen als auch von Lebewesen. Im Rahmen von Grazie und Schönheit präsentieren sich die Dinge uns – und anderen Dingen – als Gaben. Um dieses Konzept der Dinggabe zu beurteilen, sollten wir es zwischen zwei Extremen positionieren, zwischen dem Ding als empirisches Eigenschaftsbündel einerseits und als ontologisch durch dunkle Essenzen zusammengehalten andererseits. Obwohl die Gabe Aspekte aus beiden Philosophien entlehnt, widersetzt sie sich der Identifikation mit einer der beiden. Der Empirismus ist so besessen von Eigenschaften, dass er sich nie sicher sein kann, wie sie gebündelt sind, und der Essentialismus ist sich des Ganzen so sicher, dass die Vielzahl der Teile eine bloße Illusion zu sein scheint. Wie wir oben im ersten Teil (HW Ausgabe 01/2020 – die Red.) gesehen haben, besagt die Theorie der Schönheit als Gabe, dass eine Erscheinung von einem bestimmten Vektor begleitet wird, wenn auch nicht unbedingt von echter Bewegung. Die Schönheit ersetzt die eigentliche Übergabe der Gabe durch Ausstrahlung, die ihm mehr den Charakter des Exzesses oder des Verströmens verleiht. Die Ausstrahlung verbindet die beiden stärkeren Hälften des Essentialismus und des Empirismus: ein kontinuierlicher Strom von Eigenschaften, der die Gewissheit beinhaltet, dass sie aus einer einzigen Quelle fließen.
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Ohne ihre schwächeren Hälften, d. h. die Skepsis des einen und die Notwendigkeit einer dunklen Wesenheit des anderen, läuft die Ausstrahlung in der Tat auf Folgendes hinaus: Die Dinge überragen von Natur aus sich selbst – ein Satz, der so paradox ist, dass er sicherlich jeden Philosophen in den Wahnsinn treiben würde. Die Dinge sind irgendwie größer als der Raum, den sie körperlich und geistig einnehmen, sie dringen in ihre Umgebung ein und verbinden sich dennoch nicht mit ihr.
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Über-sich-hinausgehen wird im Allgemeinen mit Transzendenz gleichgesetzt, d. h. dem Transzendieren des physischen, greifbaren Objekts durch etwas anderes, ein höheres Wesen oder eine höhere Idee. Obwohl ich mit dem ersten Teil – „das Physische transzendieren“ – völlig einverstanden bin, bin ich mit dem zweiten Teil – „durch etwas anderes“ – nicht einverstanden. Die Transzendenz der Schönheit wurde lange Zeit als eine Sache von Dingen betrachtet, die über sich selbst hinausgehen – eine Formulierung, die nicht verbessert werden kann, der aber immer jene enttäuschende Extrapolation folgt, die besagt, dass die Dinge über sich selbst hinausgehen, um in einen Zustand des Reinen, Wahren, Vollkommenen, Gerechten, Idealen zu gelangen – kurz gesagt, in das Jenseits. Es ist völlig unnötig, die Dinge als über sich selbst hinausgehend zu vermuten, weil eine übergeordnete Realität sie emporhebt. Und selbst dann ist das kein Grund, die Augen vor der vertikalen Komponente der Schönheit zu verschließen und die universelle Flachheit der Immanenz zu verkünden. Diese „Mikro“-Transzendenz des ersten Schrittes, vielleicht besser als lokale Transzendenz bezeichnet, ist eine Form des Exzesses, die tatsächlich eine Vorstellung vom Realen ermöglicht; es ist das, was reale Dinge tun, und nicht das, was das Ideal tut, um andere Dinge entstehen zu lassen. Lokale Transzendenz ist Teil des sprunghaften Aktes: Reale Dinge springen nach oben, um horizontal zwischen anderen Dingen zu landen, nicht um sich von ihnen zu lösen. Schönheit geht von den realen Dingen nach außen, nicht von den Idealvorstellungen nach innen. Es ist kein Ding, das durch ein anderes hindurch erscheint; nein, Schönheit ist die Art und Weise, wie die Dinge existieren, und sie tun dies vorwärts gewandt und gebend. Die Dinge schaffen eine Sphäre um sich herum, in der sie agieren und mit anderen interagieren können; ohne diese Sphäre wären sie nur eine Ansammlung von Teilen und würden nie den Zustand eines Ganzen erreichen. Daher ist die Art der Transzendenz, die hier vorgebracht wird, radikal anders als die übliche, denn anstatt, dass ein Ding von etwas anderem übertroffen wird, stellt sich uns die Frage: Wie kann ein Ding über sich selbst hinausgehen?
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Eine Antwort lautet, dass die Dinge zwar endlich sind, aber niemals endgültig. Allen Dingen haftet eine gewisse Unbestimmtheit an. Weithin akzeptiert ist diese Ansicht hinsichtlich von Objekten der bildenden Kunst oder der glamourösen Fashion-Welt, die von einer Wolke des „je ne sais quoi“ umhüllt sind, aber sie gilt auch für die meisten fertigen, determinierten Dinge. Wenn ich zum Beispiel einen schweren Schraubbolzen durch das Küchenfenster werfe, weil ich meine Hausschlüssel vergessen habe, dann übersteigt dieser Bolzen seine Bestimmung, in eine Mutter geschraubt zu werden. Oder, etwas weniger dramatisch, wenn ich meinen Teller in Ermangelung eines Tisches in der Eile auf einen Bücherstapel stelle, um ein Fußballspiel zu sehen, transzendieren die Bücher ihre Definition als Lesestoff. Und wir können solche Begebenheiten schnell ausweiten, z. B. auf Skiern einen Berghang hinunterfahren oder zu Musik tanzen; einen Mord mit dem Hammer begehen; in einen See oder ein Feuer starren; ein Vogelnest bauen oder von einer Brücke bungee-jumpen – alles Unternehmungen mit der Unbestimmtheit von Dingen. Wenn ein Klang ertönt, gibt es nichts, was uns sagt, dass wir unsere Füße, unseren Kopf oder unsere Hüften bewegen sollen. Und schneebedeckte Hänge sind nicht dazu da, um Ski zu fahren, sowenig wie Seen dazu da sind, um das Anstarren zu provozieren. Es sind auch keine Zweige gemacht, um zu einem Nest zusammengefügt werden, keine Brücken, um von ihnen zu springen; und Hämmer gibt es, um damit Nägel in Wände zu schlagen. Dennoch haben Dinge jeden Tag Begegnungen wie diese, Begegnungen, die nicht zufällig sind, lediglich in ihre Funktionsfähigkeit eingreifen, und dadurch von einer grundlegenderen und direkteren, ästhetischen Ordnung sind als bei jeder möglichen Nutzung oder sachkundigen Handhabung. Ein Essentialist wie Heidegger hätte das nie zu würdigen vermocht. Für ihn waren die Dinge entweder (unsichtbar) brauchbar oder (sichtbar) kaputt, und auch wenn seine Verschiebung vom Phänomenalen zum Operativen die Macht der Dinge erweiterte, bedeutete dies, dass die Dinge nur das tun konnten, was sie tun sollten – ein Krug schenkt Wein aus – oder wenn nicht – ein Krug zerbricht – aber niemals mehr. Doch es gibt immer mehr, wie Adorno in seiner denkwürdigen Feststellung über die Schönheit der Natur schreibt: ein „Mehr“, das uns hin zu den Dingen führt, eine Qualität des Seins, die wir bezaubernd oder charmant nennen. Das ist die Vorwärtsgewandtheit der Dinge; sie leuchtet in unseren Händen auf, in unserem Geist und in unseren Augen: Der Gedanke an eine Handlung wie das Werfen des Bolzens durch das Fenster kommt uns wie ein unwiderstehlicher Zauber in den Sinn. Mit anderen Worten, das Aufleuchten, die Ausstrahlung kann uns Dinge wahrnehmen lassen, die nicht sofort im Umfeld des Phänomens sichtbar sind, aber dennoch zur Gegenwart des Objekts gehören. Wir begreifen die Dinge nicht mit unserem Bewusstsein; es ist eher das Gegenteil: Die Dinge berühren, erschüttern und fesseln uns – und wenn wir uns das Diagramm der ausgestreckten Hände des Strahlens (Abb. 2) noch einmal anschauen, ist das nicht so überraschend. Die Unbestimmtheit eines Dings übertrifft bei weitem jeden vorherbestimmten Zustand, als ob es von tausenden wirbelnden losen Fäden umgeben wäre – losen Fäden, die um unseretwillen existieren, damit wir uns an sie binden können, nicht nur um ihrer selbst willen.
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Teil 1 erschien in Ausgabe 01/2020
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