Denkzeit – Editorial 02/2020
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Wollte man den Menschen Zeit zum Nachdenken über eine bessere Zukunft gewähren, jenseits der Rastlosigkeit innerhalb von Umständen, die in einem zerstörerischen Strudel zu verlaufen scheinen, dann erschiene eine derartige, totale Unterbrechung geeignet. Zwischen den aufgeregten aktuellen Diskussionen zur Tauglichkeit von Maßnahmen, deren Begründungen und Auswirkungen ertönen auch jene Stimmen, die da rufen: „Nach dieser Krise wird alles anders sein.“
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Eine Art freigeistiger Wettbewerb um Zukunftsideen scheint ausgebrochen. Man erkennt in schier allen gesellschaftlichen und politischen Kreisen Sachverhalte als relevant an, deren Brisanz bisher verbunden mit massiven Protesten vorgetragen werden musste: Die globalisierte Wirtschaftsweise zerstört Urwälder, ist verantwortlich für den bedrohlichen Klimawandel, erzeugt weltweite Armut und Ungleichheit und gefährdet die Fauna und Flora der Erde. Die stets betonte angebliche Notwendigkeit ewigen Wirtschaftswachstums wird infrage gestellt. Die Akkumulation von Reichtum in Händen weniger erzeuge die Armut der Massen; die Liste von Themen, zu denen aktuell von vielen Seiten radikale Veränderungen gefordert werden, ist lang.
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Wenn es stimmt, dass in derlei tiefgreifenden Krisen und ihren Gefahren auch das Rettende wächst, wie Hölderlin es formulierte, dann müssten wir jetzt mit Nachdruck über die grundlegenden Neugestaltungen unserer Systeme diskutieren.
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Ja!, werden mir fast alle zurufen. Diese Chance zu wahrhaftiger Transformation und raschen Reformen sollten wir nutzen!
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Ein Schönheitsfehler will benannt sein: Es gibt eine unüberschaubare Zahl an Vorschlägen und Ideen für Systemänderungen, die sich entscheidend widersprechen und ungleich lange und verbissen von ihren Anhängern vertreten werden. Nirgends ist das offenkundiger als bei Wirtschaftsthemen. Sozialisten sehen jetzt den Zeitpunkt für eine entsprechende Gesellschaft, Libertäre und Anarchisten wollen komplette Regierungen weghaben. Leute, die erstreben, den Kapitalismus abzuschaffen, würden das Kind „Marktwirtschaft“ mit demselben Bad ausschütten, weil es für sie keinen Unterschied macht; Anhänger „Moderner Geldtheorien“ (MMT), würden wie verrückt Geld für Staatsausgaben drucken und Banken entmachten, Vertreter der „Österreichischen Schule“ forderten eine Konkurrenz von Währungen mit Gold- oder alternativen werthaltigen Deckungen. Wieder andere ersetzen Bargeld durch Kryptowährungen und von jenen ganz zu schweigen, die Geld gleich komplett abschafften, wenn man sie ließe. In den schrillen Reformerchor stimmen dann noch einige Freiwirtschafter ein, die ihre Geld- und Bodenreform ins Spiel bringen. Und all das sind nur die Wirtschaftsreformer. Auf anderen Gebieten ist die gegensätzliche Vielfalt vergleichbar gravierend.
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Die Befürchtung scheint nicht unbegründet, wonach die Chance auf Wechsel nicht an Systemveränderungsideen scheitern wird, sondern an der anzunehmenden Gefahr, es könnte hinterher alles fehlerhafter sein als zuvor. Viele Ideen zu Systemänderungen haben den immensen Nachteil, auf keinerlei praktische Erfahrungen zurückgreifen zu können. Unerprobte Gedankengebilde, deren Begründungen zweckgerichtet erscheinen, die sich ergebenden Auswirkungen aber eine Wundertüte bleiben. Wissenschaft fordert Evidenz, wobei Wirtschaftswissenschaften unter diesem Gesichtspunkt von jeher eigentlich nicht als solche eingestuft werden dürften. Im Grunde ist man immer erst hinterher schlauer.
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Um aus der jetzigen Krise mit richtungsweisenden Lösungsideen herauszukommen, könnte eine Liste mit Missständen hilfreich sein, die eine Bewältigung erfordern.
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Ungeregelte Handelsbeziehungen, einzig dem Ziel dienend, mit ausbeuterischer Unverantwortlichkeit Lohngefälle zu Renditezwecken auszunutzen.
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Ausplünderung über Jahrmillionen entstandener Energievorkommen für Verschwendung in kürzester Zeit.
Das Ausgeben unvorstellbarer Geldsummen für Militär und Kriegsgerät, statt für die zielgerichtete Entwicklung nachhaltiger gesellschaftlicher und ökologischer Systeme.
Gewährleistung legaler Eigentumsvorteile für Einzelne an für die Allgemeinheit existenzsichernden Grundlagen, die im Ergebnis zu leistungslosen Profiten auf der einen und dauerhaft Ausgebeuteten auf der anderen Seite führen. Derlei Verknappungspotenziale werden durch Gesetze geschaffen, wie das Bodenrecht, das Patentwesen, Urheberrechte, Rechte an eigenen Daten und nicht zuletzt beim Geldwesen.
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Anhand einer solchen „No-Go-Liste“ ließe sich eine Art Bewährungsprobe entwickeln. Bisher angewandte und neu vorgeschlagene Maßnahmen müssten sich der Beurteilung unterwerfen, inwieweit sie Verbesserungen bewirken. Das befähigte sie dann dazu, in einem gesellschaftlichen Zukunftsgefüge eine maßgeblich konstruktive Rolle spielen zu dürfen. Aus einem solchen Test könnten die freiwirtschaftlichen Reformansätze als wesentliches Zukunftselement hervorgehen.
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Ich wünsche mir eine für das Konzipieren der Zukunft ausreichend lange Pausenzeit. Kommen Sie wohlbehalten hindurch!
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Ihr Andreas Bangemann
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