Auf der Suche nach Spardienstleistungen – Editorial
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„Etwas vom Kopf auf die Füße stellen“, ist eine geläufige Redewendung. Auf der Suche nach deren Ursprung stößt man auf Karl Marx, wobei noch frühere russische Quellen Inspiration lieferten. Er benutzte sie in einem Nachwort im ersten Band des Kapital. Darin setzte er sich mit der Dialektik des von ihm verehrten Hegel auseinander. Allerdings kritisierte Marx dessen Erkenntnisse diesbezüglich als auf dem Kopf stehend, weil Hegel den Denkprozess als Schöpfung der Wirklichkeit ansähe, aber für ihn selbst „das Ideelle nichts andres als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle“ sei. Für Hegel gehe demnach alles vom Denken aus, wohingegen er, Marx, die Wirklichkeit als Ausgangspunkt nähme.
Der damit herausgestellte Gegensatz erscheint schlüssig und spiegelt sich auf unterschiedlichsten Gebieten menschlicher Zusammenhänge wider. Theorie und Praxis, Denken und Handeln. Was man auch betrachtet, stets taucht die Frage auf, was zuerst da war. Marx arbeitete in erster Linie als Denker, selbst wenn er für sich reklamierte, von der Wirklichkeit auszugehen. Sein Theoriewerk erlangte enorme Bedeutung und behielt sie bis heute, obwohl daraus hervorgegangene Praxis nicht von Erfolg gekrönt war. Marx erkannte, wie Geld in der Zirkulation, genauer gesagt beim Tausch von Geld und Ware, ständig mit einem Mehrwert angereichert wird. Innerhalb des Prozesses der unaufhörlichen Tauschbewegung mit der sich steigernden Wertentwicklung identifizierte er die Verwandlung in Kapital. Seine Schuldigen, „die Kapitalisten“, erkannte er in den Eigentümern der Produktionsmittel. Einzig sie sah er in der Position, den Mehrwert durch die „Ausbeutung“ der Arbeiter zu erwirtschaften, weil sie über die Bedingungen des Tauschs von Geld in Ware und Ware in Geld bestimmen konnten. Nach wie vor spielt diese Sichtweise eine nicht unerhebliche Rolle in den Wirtschaftswissenschaften.
Alternative Theoretiker, die Geld und seinen Kreislauf als ein System erachten, das ein Eigenleben führt und dabei entscheidende Macht auf realwirtschaftliche Prozesse ausübt, vertreten einen Sonderweg, den nicht nur Marxisten als insgesamt irrelevant abtun.
John Maynard Keynes sah vorher, dass die in Preisen steckenden Kapitalkosten überwunden werden würden und er prophezeite, dass sich gewaltige gesellschaftliche Änderungen ergäben, wenn ein allmähliches Verschwinden eines „Verdienstsatzes auf angehäuften Reichtum“ einsetzte.
Für unseren Autor dieser Ausgabe, Professor Carsten Herrmann-Pillath, ist im Werk Silvio Gesells die Lösung zu finden, mit der es gelingen könnte, Sparen und Investieren vom Kopf auf die Füße zu stellen. In der Realität seien die dominierenden Motive von Sparern nicht spekulativ auf Rendite ausgerichtet, sondern entsprängen dem Vorsorgemotiv. Nicht die Vermehrung des Ersparten ist ihr Antrieb, viel mehr die Sicherheit, darauf zugreifen zu können, wenn der Fall eintritt, für den man Geld zurücklegt. Das deckt sich auch mit Keynes, der drei Typen von Motiven für die Nachfrage nach Geld ermittelte: 1. um für Transaktionen des laufenden Bedarfs liquide zu sein, 2. für die Vorsichts- oder Vorsorgekasse und 3. aus spekulativen Gründen.
In der wirtschaftswissenschaftlichen Realität ist letztgenanntes Motiv das bestimmende, weshalb Sparen grundsätzlich mit positiven Zinsen belohnt werden muss. Das findet sich in jedem Grundlagenwerk der Ökonomie und dieses Denken etablierte sich, jeglichen Zweifels erhaben, in sämtlichen Zusammenhängen des Wirtschaftens. Die Finanzmathematik mit ihrer Auf- und Abzinsung ist die Königsdisziplin für die Beurteilung von Investitionen, wenngleich sie bei Zinsen größer Null stets zum gleichen Ergebnis führt: Der Wert eines auf diese Weise zu berechnenden Geldbetrags ist um so höher, je früher man ihn erhält. Da braucht es niemanden zu wundern, wenn Kurzfristigkeit und Wachstumsdruck die Wirtschaftsentwicklung maßgeblich prägen.
John Maynard Keynes, Silvio Gesell und Carsten Herrmann-Pillath, um im Bild zu bleiben, stellen das Sparen vom Wissenschaftskopf auf die Wirklichkeitsfüße. Sparen und Investieren ist demnach nicht etwas, das man mit positiven Renditeerwartungen verbindet, vielmehr muss es wie eine Dienstleistung der Gemeinschaft betrachtet werden. Dabei liegt es marktwirtschaftlich in der Natur der Sache, dass Serviceleistungen zu bezahlen sind. Den Wirtschaftenden werden die Geldmittel von den Anlegern zu dem Zweck überlassen, das Ersparte über die Zeit zu transferieren und in gleicher Güte zum gewünschten Zeitpunkt wieder Waren und Leistungen verfügbar zu machen. Die aktiven Wirtschaftsteilnehmer erscheinen also nicht als Kapitalsuchende auf dem Markt, sondern als Anbieter von Spardienstleistungen für die passiven Sparer. Dafür gebührt ihnen zumindest Dankbarkeit, wenn nicht gar ein vom Anleger zu bezahlendem Preis.
Durch diesen ethisch-philosophischen Aspekt wird die recht abstrakt diskutierte Freiwirtschaft mit ihrer Geld- und Bodenreform auf spezielle Weise ertüchtigt.
Noch steht die Marktwirtschaft kopf, weil der Kapitalismus zu dieser Zirkusnummer zwingt. Aber die Zeichen mehren sich weltweit, dass ein Befreiungsprozess bereits in vollem Gange ist. Indizien dafür sind die zunehmende Zahl an Respekt erweisenden Erwähnungen der genannten Alternativdenker, gleichwohl auch die niedrigen, ins Negative tendierenden Zinsen am Kapitalmarkt. Diese sind zwar einer Notlage geschuldet und weniger der Einsicht, die ordnungspolitische Veränderungen von Rahmenbedingungen die Türen öffnen würden, aber ein Anfang ist gemacht.
Für Sie, unsere geschätzten Leser, bleiben wir der Linie treu, den Dingen auf den Grund zu gehen und soweit notwendig auch einmal etwas vom Kopf auf die Füße zu stellen.
Herzliche Grüße Ihr Andreas Bangemann
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