Aufbrüche überall – Pat Christ
Die Idee „Geldreform“ zieht allmählich immer weitere Kreise
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Warum sind Menschen so erpicht darauf, mehr und immer mehr zu haben? Man kann doch nur eine bestimmte Menge essen. Nur gleichzeitig in einer Wohnung wohnen. Und irgendwann ist der Kleiderschrank voll. Warum also der Drang, immer mehr Geld zu scheffeln? Diese Frage treibt Mario Reutter um. Und er ist nicht der einzige. Immer mehr junge Menschen sehen – was vor 20 Jahren definitiv noch nicht so war -, dass systemisch etwas fundamental falsch läuft. Und die Folgen werden immer stärker spürbar.
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Die jungen Leute sehen, wie viele Menschen in dürftigen Verhältnissen leben. Und dass auf der anderen Seite geprasst wird. In Würzburg zum Beispiel, wo Mario Reutter lebt, steht Woche für Woche eine lange Schlange vor dem Tafelladen in der Moscheestraße an, um etwas zu essen zu erhalten, was sonst weggeschmissen würde. In dreieinhalb Kilometer Entfernung befindet sich das Weltkulturerbe Residenz. Hier finden, zum Beispiel anlässlich des Mozartfests, immer wieder Staatsempfänge statt, wo Menschen mit dicken Autos und in teuren Abendroben zum „Meet and Great“ zusammenkommen.
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Dass irgendeiner der Residenzbesucher Freundschaft schließt mit irgendeinem von denjenigen, die vor der Tafel darauf warten, dass ihre Nummer drankommt, scheint komplett ausgeschlossen. Beide Welten berühren sich nicht. Und das eigentlich Trennende, hat Mario Reutter erkannt, ist das Geld. Oder besser gesagt, das Geldsystem. Dieses System, so der 32-jährige Psychologe, der sich wissenschaftlich mit dem Thema „Spieltheorie“ beschäftigt, macht das „Spiel“, in das alle integriert und manche regelrecht gefangen sind, zu einem …. nun ja, salopp ausgedrückt: „Scheißspiel“.
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In der Unistadt Würzburg gibt es eine wachsende Community geldkritisch denkender junger Menschen. An diesem Samstagnachmittag kommen sie im Begegnungszentrum „Freiraum“ zusammen. Initiiert wurde das Treffen von Kilian Manger. Der 28-Jährige studiert in Würzburg Mathematik und Chemie auf Gymnasiallehramt. „Auf verschiedenen Wegen kam ich dazu, über Geldreformen nachzudenken“, erzählt er. Schon als Kind habe es ihn bedrückt, wenn er davon hörte, dass andere Kinder in weit entfernten Ländern verhungern. „Warum?“, hatte er sich gefragt. Prägend war auch, was ihm seine Großmutter über die NS-Zeit berichtete. „Warum nur?“, fragte sich der Junge wieder.
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„Projekt Zeitschein“
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Als Glücksfall erwies sich eine Begegnung mit Konstantin Kirsch, Initiator der Minuto-Zeitgutscheine. Manger begann, sich intensiver mit dem Thema „Geld“ zu beschäftigen. Was ist „Geld“ eigentlich? „Für mich ist es in erster Linie eine Art Kommunikationsmittel“, sagt er. Geld macht es möglich, mit einem wildfremden Menschen in Kontakt zu treten. Dieser fremde Mensch schneidet vielleicht Haare. Man kann ihn bitten, einem die Haare zu schneiden. In Form von Geld erhält er eine Gegenleistung für das, was er durch seine Talente in die Gesellschaft eingebracht habe. Unabhängig davon, ob er gerade das benötigt, was der, dem er die Haare schnitt, an Talenten zu bieten habe.
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Jeder soll jeden anderen Menschen um Hilfe bitten können, auch ohne Gegenleistung: Diese Idee steckt hinter Kilian Mangers „Projekt Zeitschein“, das sich der Student ausgedacht und das er akribisch ausgearbeitet hat. „Transparentes Schenken“ nennt er seine Idee auch. Über ein Computerprogramm wird erfasst und transparent kommuniziert, was jeder kann, der bei diesem System mitmacht. Außerdem wird in der öffentlich einsehbaren Zeitbilanz aufgelistet, was jemand wie lange der Gemeinschaft Gutes getan hat. Doch auch, wenn jemand nichts tun kann, vielleicht, weil er ein starkes Handicap hat, darf er mitmachen: „Abzuloosen, das ist in meinem System ausgeschlossen.“
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Es gehe darum, Konkurrenz, Leistungsdruck, Angst, Hierarchie, Machtgefälle, Zwänge, Betrug, Starrheit, Geiz, Egoismus, Ellenbogenmentalität und Profitgier in der Unternehmens- und Wirtschaftswelt abzubauen, listet Manger auf. Umgekehrt sollen durch ein alternatives Geldsystem Rücksicht, Freiheit, Vertrauen, Verhandlungen auf Augenhöhe, Ehrlichkeit, Hilfsbereitschaft, Orientierung am Gemeinwohl, Freundschaft, Menschlichkeit und Kollegialität wachsen. Mit dieser Idee stößt der Student im Würzburger „Freiraum“ auf große Sympathie. Hier wird seit fünf Jahren ausprobiert, inwieweit es möglich ist, geld‑, angst- und hierarchiefrei zusammenzuleben.
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Ohne Geld, ohne Hierarchie
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Von niemanden wird hier der Titel „Chef“ angepeilt. Niemand will das Sagen haben. Alles wird gemeinsam entschieden und realisiert. In der „Freiraum-Philosophie“, die aus einem Workshop hervorging, ist aufgelistet, wie sich das alternative Begegnungszentrum versteht. Die, die hierherkommen, wollen sich gegenseitig unterstützen. Sie wollen friedvoll mit Konflikten, und mit Anderssein offenherzig umgehen. Das klingt alles sehr idealistisch. Aber es funktioniert tatsächlich schon seit Ende 2014.
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Das Projekt „Freiraum“ ist in keiner Weise ideologisch motiviert. Niemand muss an irgendeine Theorie glauben. Nur eines ist innerhalb des Zentrums tabu: Geld. Das, was es hier zu essen gibt, hat jemand einfach so mitgebracht. Sämtliches Einrichtungsmobiliar ist gebraucht. Wenn jemand kommt, um einen Vortrag zu halten, um musikalisch aufzutreten oder um Bilder auszustellen, tut der- oder diejenigen dies komplett geldfrei. Auch Musik-CDs dürfen nicht verkauft werden. „Kunst ist bei uns ausschließlich dazu da, um einander zu erfreuen und zu bereichern“, sagt Dietmar Kaiser. Wobei selbstverständlich nicht von außen definiert wird, wer „Künstler“ oder „Künstlerin“ ist.
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Etwas anstrengend war es in der Vergangenheit zeitweise, die Miete aufzubringen. Wie viel berappt werden muss, ist transparent auf der Homepage aufgelistet: Im aktuellen Domizil, in das man im Mai 2016 einzog, fielen bislang knapp 36.000 Euro an Miete ohne Nebenkosten an. Mehr als 10.000 Euro müssen jährlich eingesammelt werden. Dank einer erstmals organisierten, erfolgreichen Crowdfunding-Aktion ist die Miete aktuell bis August 2020 gesichert.
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