Was ist Wirtschaftsphilosophie? – Gero Jenner

In der „Offe­nen Gesell­schaft und ihre Feinde“ vertrat Karl Popper mit großer Entschie­den­heit die Posi­ti­on, dass größe­re Eingrif­fe in die Wirt­schaft, vor allem solche ideo­lo­gisch moti­vier­ter Art, meist unheil­voll und deshalb zu vermei­den seien. Popper schrieb sein berühm­tes Werk gegen Ende der drei­ßi­ger Jahre. Da stan­den ihm einer­seits die verhee­ren­den Auswir­kun­gen einer von Text­buch­ideo­lo­gen gesteu­er­ten Zentral­wirt­schaft vor Augen, wo ein Polit­bü­ro die arbei­ten­den Massen in das Korsett einer Zwangs­wirt­schaft schnür­te, ande­rer­seits war sich Popper aber auch der Gefah­ren eines Kapi­ta­lis­mus bewusst, der dazu tendier­te, die Inter­es­sen einer Hand­voll von Mono­po­lis­ten über die der Gesamt­be­völ­ke­rung zu stel­len. Demge­gen­über propa­gier­te Popper ein Modell der klei­nen Schrit­te, nämlich eines „social engi­nee­ring“, das jeden voraus­ge­gan­ge­nen ökono­mi­schen Eingriff genau­es­tens im Hinblick auf seine Auswir­kun­gen unter­sucht, bevor es einen weite­re Maßnah­me wagt. Bei seiner Warnung hatte Popper vermut­lich die Wirt­schaft als einer Art hoch-komple­xer Maschi­ne­rie vor Augen. Wenn ein Laie dort eingreift, rich­tet er gewöhn­lich die größ­ten Schä­den an.
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Poppers Haltung beruh­te auf einer gesun­den Skep­sis. Im Bereich von Poli­tik, Gesell­schaft und Ökono­mie ist unser Wissen begrenzt. Wir müssen stän­dig mit einer Viel­zahl von Fakto­ren rech­nen, deren Einfluss auf die Gesamt­heit des Gesche­hens wir in der Regel nur unge­fähr abschät­zen können. Die Zukunft ist daher grund­sätz­lich offen (das war die Botschaft, um die es Popper eigent­lich ging). Wer glaubt, sie mit Hilfe von Patent­re­zep­ten in eine bestimm­te Bahn zwin­gen zu können, bewirkt in der Regel mehr Unheil als Nutzen.
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Dem glei­chen Aufruf zur Vorsicht begeg­net man bei einem neue­ren Autor, dem Histo­ri­ker Joachim Radkau. Er hat die Vorschlä­ge Poppers – ohne diesen ausdrück­lich zu nennen – in zehn Gebo­ten sozu­sa­gen in Stein gemei­ßelt. Ein Histo­ri­ker würde sich in der Tat mit Prophe­zei­un­gen über die Zukunft lächer­lich machen. Wird die deut­sche Demo­kra­tie in zehn Jahren von einer Pluto­kra­tie abge­löst oder wird sie im Gegen­teil basis­nä­her als heute sein? Ist eine Demon­ta­ge des Sozi­al­staats für die kommen­den Jahre zu erwar­ten oder wird die derzei­ti­ge Voll­be­schäf­ti­gung im Gegen­teil dessen Ausbau ermög­li­chen? Wird Deutsch­land in den kommen­den Deka­den von linken oder von rech­ten Partei­en regiert? Auf so komple­xe Fragen vermag eine seriö­se Wissen­schaft keine verläss­li­che Antwort zu geben.
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Wirtschaftsphilosophie
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geht viel grund­sätz­li­cher vor – wie dies ja über­haupt zum Wesen der Philo­so­phie gehört. Sie stellt nämlich die entschei­den­de Frage, wohin all die klei­nen Schrit­te führen? Vorsicht kann aus ihrer Sicht nur dann als Tugend gelten, wenn sie den Hori­zont berech­tig­ter Fragen nicht mit einem Feuer­wall verbar­ri­ka­diert. Mit Popper ist sie sich darin einig, dass die Zukunft grund­sätz­lich offen ist, und kühne Prophe­zei­un­gen von der eben genann­ten Art keine wissen­schaft­lich vertret­ba­ren Antwor­ten erlau­ben. Sie beharrt aber darauf, dass wir sehr wohl seriö­se Wenn-Dann-Aussa­gen über zukünf­ti­ge Entwick­lun­gen tref­fen können.
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Ob Europa zum Beispiel in den kommen­den Jahren zu einer Einheit zusam­men­wächst oder wieder in Einzel­staa­ten zerfällt, hängt in erster Linie ganz gewiss davon ab, ob die führen­den Poli­ti­ker dies wollen, d. h. ob sie Maßnah­men zur Förde­rung der euro­päi­schen Einheit beschlie­ßen und ob sie darüber hinaus in der Lage sind, die Bevöl­ke­rung dabei als Bundes­ge­nos­sen auf ihre Seite zu bringen.
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Auf den Unter­schied von klei­nen zu großen Schrit­ten kommt es dabei gar nicht wesent­lich an. Eine die Zukunft bewusst gestal­ten­de Planung, welche die Bevöl­ke­rungs­mehr­heit auf ihrer Seite weiß, braucht bei klei­nen Schrit­ten nicht stehen zu blei­ben. Im Gegen­satz zu angel­säch­si­schen Ländern, wo oft nur von einem Quar­tal zum nächs­ten geplant worden ist, haben die Unter­neh­men der einst­ma­li­gen Deutsch­land AG und die Konzer­ne Japans nach Ende des Krie­ges keine Poli­tik der klei­nen Schrit­te, sondern im Gegen­teil eine der lang­fris­ti­gen großen Planung betrie­ben – wie man weiß, über­wie­gend mit durch­schla­gen­dem Erfolg. In den Zeiten seiner größ­ten wirt­schaft­li­chen Expan­si­on hat das demo­kra­ti­sche Insel­reich darüber hinaus die gesam­te Ökono­mie über­aus wirk­sam gesteu­ert. Die Zukunft war in diesem Fall keines­wegs offen, denn sie wurde durch das Wollen der einfluss­reichs­ten Akteu­re bewusst in eine ganz bestimm­te Rich­tung gelenkt.
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China, ein auto­ri­tä­res Régime, verdankt seinen erstaun­li­chen Aufstieg einer eben­sol­chen Poli­tik der lang­fris­ti­gen Planung, d. h. einer Poli­tik der sehr großen Schrit­te. Die Planer gehen dort nach der Maxime vor: Wenn wir für bestimm­te Rahmen­be­din­gun­gen sorgen, dann wird die ökono­mi­sche Wirk­lich­keit mit großer Wahr­schein­lich­keit in fünf oder zehn Jahren unse­ren Erwar­tun­gen entspre­chen. Die grund­sätz­li­che Offen­heit der Zukunft wird dadurch zwar keines­wegs in Frage gestellt oder gar aus der Welt geschafft. Sozia­le Unru­hen, Seuchen, Kriege und viele andere Fakto­ren können die besten Planun­gen durch­kreu­zen, aber sicher wäre es eine Dumm­heit, wenn die Regie­run­gen dieser Länder, nur weil sich eine solche Gefahr nie endgül­tig bannen lässt, auf sie verzich­ten würden. Im besten Fall gelingt ihnen durch eine ziel­ge­rich­te­te Planung des Kommen­den, dessen Offen­heit wesent­lich zu begrenzen.
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Die Gren­zen des Wachstums
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Die Grund­fra­ge einer Wirt­schafts­phi­lo­so­phie: Wohin denn all die klei­nen und weni­ger klei­nen Schrit­te der sozial-ökono­mi­schen Planung am Ende führen?, ist letzt­lich von ausschlag­ge­ben­der Bedeu­tung. Unter­neh­men oder Staa­ten, die sich bei jedem folgen­den Schritt ausschließ­lich daran orien­tie­ren, ob der ihm jeweils voran­ge­gan­ge­ne denn auch den gewünsch­ten Erfolg erziel­te, können zwar sicher sein, den Weg des gerings­ten Wider­stands zu beschrei­ten, aber dieser kann sie sehr wohl in den Abgrund führen. Manche Kassan­dras unse­rer Zeit behaup­ten ja in der Tat, dass die indus­tri­el­le Ökono­mie genau diese Gefahr beschwö­re. Die Philo­so­phie der Wirt­schaft konfron­tiert die kurz­fris­ti­gen Auswir­kun­gen ökono­mi­schen Handelns daher mit dessen lang­fris­ti­gen Folgen. Es gehört zu den Para­do­xien mensch­li­chen Handelns, dass die jewei­li­gen Bewer­tun­gen sich grund­le­gend unter­schei­den können.
Fragen nach den lang­fris­ti­gen Auswir­kun­gen ökono­mi­schen Handelns sind keines­wegs neu, aber es bedeu­te­te einen Durch­bruch, als die 1972 veröf­fent­li­che Studie über „Die Gren­zen des Wachs­tums“ sie zum ersten Mal für die Entwick­lung des Globus als Ganzem stell­te. Dieses Werk und sein dama­li­ger Sensa­ti­ons­er­folg, der einer­seits in öffent­li­chem Beifall, ande­rer­seits in kaum verhehl­ter Empö­rung bestand, bleibt bis heute exem­pla­risch. „Die Gren­zen des Wachs­tums“ erhel­len zur glei­chen Zeit die Moti­va­ti­on, die Wider­stän­de und die Gefah­ren, welche mit einer solchen grund­sätz­li­chen und lang­fris­tig ange­leg­ten Art der Wirt­schafts­ana­ly­se – eben einer Wirt­schafts­phi­lo­so­phie – unaus­weich­lich verbun­den sind.
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I. Die Motivation
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ist diesel­be, die allem mensch­li­chen Denken über die Wirk­lich­keit von jeher zugrun­de liegt: unser Wünschen und Hoffen. Aber es sind in diesem Fall nicht die mäch­ti­gen, gegen­warts­be­zo­ge­nen Erwar­tun­gen, wie sie den Alltags­kon­sum und das Wach­sen der Wirt­schaft beflü­geln. Die meis­ten Menschen, vor allem natür­lich jene aus den Entwick­lungs­staa­ten, wünschen sich nichts sehn­li­cher als den Besitz all jener das Leben erleich­tern­den Produk­te, die ihnen eine starke und wach­sen­de Wirt­schaft verheißt.
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Das war nicht das Thema von Donella und Dennis Meadows. Dennoch waren sie von nicht weni­ger elemen­ta­ren Wünschen und Hoff­nun­gen beseelt, als sie ihr Werk verfass­ten. Nur waren es in ihrem Fall Hoff­nun­gen, die weni­ger der Gegen­wart als der Zukunft der Mensch­heit galten. Sie wünsch­ten sich einen Globus, auf dem auch unsere Enkel und deren Nach­fah­ren noch menschen­wür­di­ge Bedin­gun­gen vorfin­den würden. Die Moti­va­ti­on für ihr Buch lag in der Befürch­tung, dass wenig Grund zu dieser Hoff­nung bestehe, wenn die Mensch­heit ihre Ressour­cen weiter­hin im gewohn­ten Tempo verprasst.
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