Digitalisierung – ein Begriff, über den zu viel geschwafelt wird – Siegfried Wendt
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Immer häufiger stoße ich in letzter Zeit auf Zeitungsmeldungen, in denen mir Aussagen der folgenden Art auffallen:
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Um den Herausforderungen von Globalisierung, Klimawandel und Digitalisierung zu begegnen, müssen wir neuen gesellschaftlichen Zusammenhalt stiften und gegen weltweit wachsende Ungleichheit vorgehen.
Die europäischen Volkswirtschaften stehen vor enormen Herausforderungen, die Transformationsprozesse von Digitalisierung und Klimawandel auf europäischer Ebene gemeinsam anzupacken und den damit einhergehenden tiefen Strukturwandel für Arbeit und Wirtschaft sozial zu gestalten.
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In diesen Aussagen werden die Probleme bezüglich der Digitalisierung auf die gleiche Stufe gestellt mit den Herausforderungen, die uns durch den Klimawandel aufgezwungen werden. In meiner Sicht besteht jedoch ein himmelweiter Unterschied zwischen diesen beiden Problemfeldern: Der Klimawandel betrifft die ganze Erde und bedroht die Menschheit, wogegen die mit der Digitalisierung zusammenhängenden Probleme nur einzelne Volkswirtschaften betreffen und dort auch keine wirklich bedrohlichen Folgen haben werden. Ich bin überzeugt, dass die meisten der Politiker und Journalisten, die sich zum Problem der Digitalisierung äußern, viel zu unscharfe Vorstellungen mit diesem Begriff verbinden, als dass man ihre Äußerungen ernst nehmen könnte. Vielleicht hilft der vorliegende Aufsatz, die Schwafelei ein wenig einzuschränken.
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2. Der Unterschied zwischen Analog- und Digitaltechnik
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Digitaltechnik ist eine von zwei möglichen Formen von Informationstechnik. Ihr Gegenstück ist die sog. Analogtechnik. Das Wesen von Information liegt darin, dass sie von Wissenden zu Nichtwissenden fließen kann. Deshalb kann man sagen, das Wesen von Information bestehe in ihrer Wissbarkeit. Jegliche Informationstechnik dient der Speicherung, Mitteilung und Verarbeitung von Information. Dabei kann Information aber nicht unmittelbar Gegenstand von Speicherung, Mitteilung und Verarbeitung sein, sondern sie muss an physikalische, beobachtbare Sachverhalte gebunden sein, denen die darin gebundene Information über den menschlichen Akt der Interpretation entnommen werden kann. So ist beispielsweise die in diesem Aufsatz enthaltene Information an die Sichtbarkeit des Textes und der Abbildungen gebunden.
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Eine Informationstechnik wird als Analogtechnik bezeichnet, wenn Information immer nur in Form von zeitlich oder räumlich kontinuierlich veränderlichen messbaren physikalischen Größen technisch gespeichert, mitgeteilt oder verarbeitet wird. Man denke an den zeitlich veränderlichen, räumlich verteilten Luftdruck, der beim Sprechen entsteht, oder an den zeitlich veränderlichen elektrischen Strom, der durch ein Mikrophon fließt. „Analog“ heißt diese Technik, weil bei einer Darstellung des Verlaufs über einer Zeit- oder Ortsachse die Information in der Form der Verlaufskurve steckt und unabhängig von der Frage ist, welche physikalische Größe sich denn gemäß dieser Kurve verändert (siehe Abb. 1 links). Zwei physikalische Größen verhalten sich analog zueinander, wenn ihre Verläufe formgleich sind.
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Die Analogtechnik hat aber einen schwerwiegenden Mangel: Man kann einem Verlauf nicht ansehen, ob er die ursprünglich gemeinte Information darstellt oder durch eine Störung aus dem ursprünglichen Verlauf entstanden ist. Man denke an das Knacken und Rauschen beim Abspielen einer Schallplatte. Dieser Mangel wird durch die Digitaltechnik behoben. Diese ist dadurch gekennzeichnet, dass die zu speichernde, mitzuteilende oder zu verarbeitende Information in Form wahrnehmbarer Strukturen repräsentiert wird, die aus endlichen Repertoires symbolischer Bausteine aufgebaut sind. Die bekannteste Form solcher Strukturen sind Texte aus Alphabeten.
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Die Digitaltechnik konnte sich gegenüber der Analogtechnik durchsetzen, weil man mit ihr nicht nur all das realisieren kann, was schon mit der Analogtechnik möglich war, sondern weil sie es auch ermöglicht, Aufgaben zu lösen, für die es mit analogen Mitteln keine Lösung gibt. Nichts von dem, was in den folgenden Abschnitten 3 bis 6 behandelt wird, wäre mit analogtechnischen Mitteln machbar. Die Überlegenheit der Digitaltechnik konnte sich aber erst zeigen, nachdem man erkannt hatte, dass die kontinuierlichen Verläufe, in denen die Information im Falle der Analogtechnik steckt, durch Punktefolgen erfasst werden können, aus denen die ursprünglichen Abläufe mit beliebiger Genauigkeit zurückgewonnen werden können (siehe Abb. 1 rechts). Man nennt dies Abtastung. So kann man beispielsweise menschliche Sprache mit akzeptabler Qualität digitalisieren, indem man das Sprachsignal durch 10.000 Abtastpunkte pro Sekunde erfasst und jeden Abtastwert auf ein Element einer endlichen Menge von 250 Zahlen abbildet. Erst durch das Verfahren der Abtastung wurde es möglich, Telefongespräche über das Internet zu führen.
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3. Die Universalität der Null/Eins-Codierung
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Damit man beliebige Informationen in Computern speichern und verarbeiten kann, ist es erforderlich, die Informationen als mathematische Objekte zu betrachten. Dann können sie als Argumente und Ergebnisse mathematischer Funktionen auftreten:
Ergebnis = Funktion (Argument 1, Argument 2, … Argument m)
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Schon der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) erkannte die Möglichkeit, beliebige Informationen digital ausschließlich unter Verwendung der Symbole 0 und 1 zu erfassen. Ein Symbol, das aus einer Menge von nur zwei Möglichkeiten genommen wird, ist ein sog. Binärzeichen und wird als „Bit“ bezeichnet.
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Die Erfassung beliebiger Informationen durch endlich lange Binärfolgen lässt sich problemlos durch physikalische Sachverhalte realisieren. Beispiele hierfür sind:
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Ein Strom fließt oder fließt nicht.
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Ein Magnetfeld läuft im Uhrzeigersinn oder im Gegenuhrzeigersinn.
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Ein Kondensator ist positiv oder negativ geladen.
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An einer Binärposition auf einer Lochkarte ist ein Loch oder kein Loch.
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In der Anfangszeit der Computer, also kurz nach 1940, war deren Leistung noch so begrenzt, dass man sie nur für Aufgaben aus den Bereichen Technik, Naturwissenschaft und Betriebswirtschaft einsetzen konnte. Deshalb waren die Informationen, die gespeichert und verarbeitet werden mussten, ausschließlich Zahlen und Texte. Also musste man nur festlegen, wie Zahlen und Texte durch Binärfolgen erfasst werden sollten. Grundsätzlich hätte man beliebige Zuordnungen festlegen können, aber es war natürlich sinnvoller, die Zuordnungen so zu wählen, dass jeder unnötige Verarbeitungsaufwand vermieden wurde. Zahlen müssen arithmetisch verknüpft werden können, und Texte müssen alphabetisch sortiert werden können.
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Bezüglich der Zahlen lag es nahe, den Aufbau von Dezimalzahlen zum Vorbild zu nehmen und das Prinzip des Stellengewichts zu übernehmen, indem nur anstelle der Basis 10 die Basis 2 einzusetzen war (siehe Abbildung 2).
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Bezüglich der Texte brauchte man nur festzulegen, welche Binärfolgen den einzelnen Schriftzeichen zugeordnet werden sollen. Die erste und auch heute noch gebräuchliche Festlegung heißt „American Standard Code for Information Interchange (ASCII)“. Der Zeichenvorrat entspricht dem einer erweiterten Computertastatur. Abbildung 3 zeigt einen Auszug aus der ASCII-Codetabelle. Man sieht, dass die Codierung so gewählt wurde, dass sowohl die Werte der Dezimalziffern als auch die Alphabetpositionen der Buchstaben als Dualzahlen vorkommen. Dies ist hilfreich für die Sortierung von Texten im Computer.
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Rund 150 Jahre nach Leibniz formulierte der Engländer George Boole (1816–1864) die Regeln einer Algebra für die sog. Aussagenlogik, bei der anstelle der formalen Werte 1 und 0 die beiden Wahrheitswerte wahr und falsch stehen. Diese Algebra bildet die Grundlage jeglicher Computerkonstruktion. Sie wurde auch zur Bestimmung des Operatorennetzes für die in Abbildung 4 tabellarisch beschriebene Funktion (y1, y2) = F (x1, x2, x3) benutzt.
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Abbildung 4 (auf der folgenden Seite) veranschaulicht den Sachverhalt, dass man mit nur einem einzigen Operatortyp jede beliebige Funktion realisieren kann, die einem m‑stelligen Binärwort (x1, x2, … xm) ein k‑stelliges Binärwort (y1, y2, … yk) zuordnet. Der Operatortyp hat die englische Bezeichnung NAND.
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In den y‑Spalten der funktionsbeschreibenden Tabelle kommen hier nicht nur die beiden Binärwerte 0 und 1 vor, sondern auch noch die drei Einträge „irrelevant“ (irrel). Dies soll darauf hinweisen, dass in realistischen Aufgabenstellungen aus der Praxis meist nicht jede y‑Position relevant ist, was zur Aufwandsminimierung bei der Funktionsrealisierung durch Operatoren genutzt werden kann.
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4. Konsequenzen der Miniaturisierung
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Die in Abb. 4 gezeigte Informationsverarbeitung (y1, y2) = Funktion (x1, x2, x3) ist selbstverständlich weit entfernt von allem, was man mit Computern realisieren will. Und trotzdem benötigt man zur Realisierung dieser primitiven Funktion schon zehn technische Operatoren. Da braucht man nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, dass in einem Computer der Anfangszeit kurz nach 1940 schon rund tausend technische Operatoren vorkamen. Die Realisierung der Operatoren geschah damals mit Methoden der Elektrotechnik, und ein Operator hatte ungefähr die Größe einer Streichholzschachtel. Dieses Operatorvolumen galt auch noch, als kurz vor 1960 an der Technischen Hochschule Darmstadt das Deutsche Hochschulrechenzentrum eingerichtet wurde, wo ein einziger Computer den Bedarf sämtlicher deutschen Universitäten und Forschungsinstitute decken sollte. Das dort installierte Computersystem inklusive der Peripheriegeräte für die Eingabe und Ausgabe der Daten hatte einen Raumbedarf von der Größe einer Turnhalle. Und dennoch fasste der Speicher des Computers nicht mehr Programminformation als ein einziger Programmierer in einem Jahr entwickeln konnte. Die Prozessorleistung betrug ungefähr 10.000 elementare Programmschritte pro Sekunde.
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Ab ungefähr 1965 änderte sich die Technologie der Operatorrealisierung, und es begann die Zeit der sog. Mikroelektronik. Diese führte schließlich dazu, dass das Volumen eines Operators heute ungefähr um den Faktor 1 Million kleiner ist als damals. Als Folge davon konnte die Prozessorleistung auf das über Tausendfache gesteigert werden.
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Der Speicher meines Laptops fasst zehntausendmal so viel Programminformation wie das Computersystem im damaligen Deutschen Hochschulrechenzentrum, welches 10 Millionen DM kostete. Und obwohl mein Laptop nur 500 € kostete, rechnet er doch tausendmal schneller als der damalige Großcomputer in Darmstadt.
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Die extreme Reduktion des Hardwarevolumens unter gleichzeitiger extremer Steigerung der Verarbeitungsleistung machte es möglich, die Analogtechnik aus der Nachrichtentechnik völlig zu verdrängen und dabei auch noch die Form der Kommunikationssysteme zu revolutionieren.
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Das Ergebnis ist das Internet, über das nicht nur Sprache, sondern auch Bilder, Videos und beliebige andere Daten fließen können. Während im früheren Telefonnetz die Informationen nur fließen konnten, nachdem zuvor ein Kanal zwischen zwei kommunizierenden Partnern aufgebaut worden war, werden im Internet die Informationen auf der Senderseite gestückelt in endlich lange Null/Eins-Folgen, mit einer Ordnungsnummer und der Adresse des Empfängers versehen und als sog. Datenpakete ins Netz eingespeist. Diese Pakete können – vergleichbar mit Pkws – auf unterschiedlichen Wegen zum Ziel gelangen. Dort müssen sie auch nicht in der Reihenfolge, wie sie abgeschickt wurden, ankommen, denn sie wurden ja beim Absenden nummeriert und können deshalb wieder in der ursprünglichen Reihenfolge interpretiert werden.
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Auch die Mobiltelefonie konnte sich erst als Folge der extremen Miniaturisierung der Systeme zu einem Dienst für jedermann entwickeln. Zuvor gab es zwar auch schon Mobiltelefonie, aber da waren die Apparate der Teilnehmer so voluminös und schwer, dass sie nur im Auto mitgeführt werden konnten und deshalb nur für wenige Nutzer wie beispielsweise dem Militär oder der Feuerwehr in Frage kamen. Für Privatpersonen standen die Kosten für die Nutzung der Vermittlungs- und Übertragungssysteme pro Teilnehmer in keinem akzeptablen Verhältnis zum Nutzen. – - –
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